Richtet Rousseau nicht!

Morgenandacht
Richtet Rousseau nicht!
28.06.2017 - 06:35
26.06.2017
Pfarrer Stephan Krebs

Mit Urteilen über andere Leute ist man meist schnell zur Hand. Ich auch. Aber Vorsicht: In der Bergpredigt sagt Jesus: „Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet.“ (Mt 7,1f)

 

Dafür hält der heutige Tag ein gutes Lehrstück bereit. Denn heute hat der französische Philosoph Jean Jacques Rousseau Geburtstag. Es ist kein runder, nur der 305., aber Rousseaus Leben ist auch alles andere als rund verlaufen. Er gilt heute als einer der ganz großen Denker des 18. Jahrhunderts, als Vorbereiter der Aufklärung. Seine Bücher gelten bis heute als Standardwerke der Philosophie, Pädagogik und Staatstheorie. Komponiert hat er auch, ganze Opern – ein Multigenie.

 

Aber Rousseau hat auch eine dunkle Seite, die mir als Familienvater schwer zu schaffen macht. Rousseau hatte in Paris ein Verhältnis mit einer Wäscherin namens Thérèse. Sie wohnte im selben Haus wie er. Die beiden bekamen Kinder, fünf an der Zahl. Und alle wurden direkt nach der Geburt in einem Findelheim abgegeben. Viele dieser Waisenhäuser waren noch im 20. Jahrhundert schreckliche Orte. Drei Jahrhunderte vorher war das noch viel mehr der Fall. Die Lebenserwartung der Findelkinder war gering. Auch Rousseaus Kinder verschwanden spurlos.

 

Mich macht das fassungslos und nimmt mir jedem Respekt vor diesem Mann. Wie kann man fünf Kinder weggeben? Und parallel dazu Bücher über Kindererziehung schreiben!? Da steht mein Urteil schnell fest: Unglaubwürdig, unentschuldbar.

 

Doch ich höre Jesus sagen: „Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet.“

 

Also schaue ich näher hin: Rousseau selbst hat zu seiner Verteidigung auf sein kümmerliches Dasein hingewiesen, das habe Kinder gar nicht zugelassen. Rousseau wurde in Genf geboren, in einem evangelischen Pfarrhaus, denn seine Mutter war eine Pfarrerstochter. Sie, wie auch Rousseaus Vater waren Hugenotten, also Glaubensflüchtlinge, die sich aus dem katholischen Frankreich in das evangelische Genf gerettet hatten. Rousseau war ein kränkliches Kind mit einem Geburtsfehler an der Harnblase. Seine Mutter starb wenige Tage nach der Geburt. Sein Vater geriet später mit einem Offizier in Streit und musste fliehen. Den zehnjährigen Sohn ließ er zurück. Damit begann für den jungen Jean Jaques eine Odyssee, die bis zu seinem Lebensende nicht mehr enden sollte. Weit über 30mal wechselte er den Wohnort. Er schlug sich durch als Dienstbote, Hauslehrer, Schreiber oder als bettelnder Wanderer.

 

Doch nirgends konnte oder wollte er lange bleiben, denn Rousseau provozierte viele Leute mit seinen neuen, oft revolutionären Ideen. Die waren den Machthabern natürlich ein Dorn im Auge. So überwarf sich Rousseau mit Kirchen und Königen, mit Philosophen und Gönnern. Meistens wurde er entweder gerade in einem Salon als berühmter Denker hofiert oder er war auf der Flucht vor einer drohenden Haftstrafe. Kindern konnte er in der Tat keinerlei Sicherheiten bieten. Auch seiner Geliebten Thérèse nicht. Doch an ihr hat er immer festgehalten. Und sie an ihm auch. Sie folgte ihm überall hin. Im Alter von 56 Jahren haben die beiden schließlich geheiratet – der epochale Philosoph und die Wäscherin, die sich ihrer fünf Kinder ins Waisenheim entledigten. Zehn Jahre später wurde Thérèse Zeugin seiner letzten Worte: „Wie rein und lieblich ist der Himmel, keine Wolke trübt ihn. Ich hoffe, der Allmächtige nimmt mich da hinauf zu sich.“ So endete Rousseaus wildes Leben – in stiller Hoffnung auf Gottes Barmherzigkeit.

 

Reicht das um Rousseaus dunkle Seite zu akzeptieren? Ich sehe ihn nun mit anderen Augen, aber vergeben kann ich ihm trotzdem nicht. Aber das muss ich ja auch nicht. Ich muss nur wissen: Gott kann das. Und das ist am Ende nicht nur für Rousseau die letzte Hoffnung, sondern für alle. Auch für mich.

26.06.2017
Pfarrer Stephan Krebs