Warten

Morgenandacht

Gemeinfrei via Unshplash/ Martin Lostak

Warten
19.12.2022 - 06:35
29.07.2022
Matthias Viertel
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Früher gab es auf den Bahnhöfen Wartesäle. Sehr schmuck waren die nicht, eher ein wenig hölzern, aber immerhin gab es sie. Da saßen dann die Menschen, die auf ihren Zug warteten, aufgereiht auf harten Bänken. Zumindest hatten sie es warm und trocken. Ich kann mich noch genau an den Geruch erinnern, diese Mischung aus Fernweh, Abenteuer und Bohnerwachs. Heute gibt es solche Wartesäle nicht mehr, stattdessen Läden und Boutiquen in den Bahnhöfen. Man kann – und soll – die verbleibende Zeit zum Shoppen nutzen. Es ist bunt und unterhaltsam geworden, so dass bloß keine Langeweile aufkommt.

Mit der Adventszeit ist es ähnlich: Eigentlich sind die Wochen vor Weihnachten eine Art Wartesaal. Und auch diese Zeit ist bunter geworden und unterhaltsamer. Kaum vorstellbar, dass die Wochen des Advent einmal als Fastenzeit gedacht waren. Mit dem Martinstag begann diese Zeit der Zurückhaltung, da gab es noch einmal eine fette Gans, eben die Martinsgans, und dann war wirklich Schluss mit den Schlemmereien, bis Weihnachten. So hölzern wie die alten Wartesäle ist die Adventszeit heute nicht mehr. Und sie ist nicht mehr so karg wie beim Fasten, damals waren neben Fisch und Fleisch auch Milchprodukte und Eier verpönt. Heute gibt es Weihnachtsmärkte, endlich sind sie wieder möglich. Und gutes Essen, Plätzchen, Lebkuchen, Stollen. Wie schön! Aber dieser Luxus bietet nicht nur Vorteile.

Die selbst auferlegte Enthaltsamkeit in der Adventszeit hatte einen besonderen Sinn, genauso wie das Warten. Die Wartezeit bietet Gelegenheit, Geduld einzuüben. Wo Räume und Zeiten des Wartens wegfallen und durch Unterhaltung ausgefüllt werden, steigert sich die Ungeduld. Und auch das ewige Hantieren mit dem Smartphone ist eher Verlegenheit und kann die Ungeduld beim Warten nicht wirklich beseitigen.

An einer Stelle im Neuen Testament wird Gott als „der Gott der Geduld“ bezeichnet.(1) Gesagt hat das der Apostel Paulus, der sich mit den Menschen auskannte. Er wusste aus eigener Erfahrung sehr gut, wie schwer es ist, sich zu ändern. Deshalb malte er sich aus, wieviel mehr Geduld Gott mit uns Menschen haben muss angesichts der ständigen Vertröstungen und Ausreden, des permanenten Aufschiebens von notwendigen Entscheidungen und überfälligen Korrekturen.

Warten und Geduld: das hängt beides unmittelbar zusammen. Das Warten im Advent ist aber noch aus einem anderen Grund besonders wichtig. Denn Weihnachten fällt nicht vom Himmel, es hat eine Vorgeschichte. Und die betrifft nicht nur die Religionsgeschichte, sondern auch die Köpfe und Seelen. Ausgehend von der Weihnachtsgeschichte müssen Joseph und Maria in diesen Tagen aufgebrochen sein, so ungefähr 4-5 Tage braucht man für den Weg von Nazareth nach Bethlehem, jedenfalls damals, als man noch zu Fuß unterwegs war. Heute ist also der richtige Zeitpunkt zum Aufbruch. Damals machten sich Maria und Joseph auf den Weg, weil sie zu einer Steuerzählung mussten. Ich bin mir sicher - auf ihrem Weg hatten sie ausreichend Gesprächsstoff.

Heute geht es nicht um eine Steuerzählung, eher um eine ganz eigene Bilanz: was brauche ich wirklich zum Leben? Die warme Wohnung, bezahlbare Lebensmittel und Energie sind wichtig. Das ging Joseph und Maria auch nicht anders. Aber da ist noch mehr: Wer wartet, bekommt die Zeit, über sich und über das Leben nachzudenken. Das ist keine leichte Aufgabe, sie geht nicht so einfach von der Hand. Und dieses Nachdenken hat Konsequenzen. Weihnachten verspricht eine Kurskorrektur, einen Neuanfang. Aber dafür bedarf es der Vorbereitung. Deshalb ist das Warten im Advent so wichtig: Weihnachten fällt nicht vom Himmel. Und die Wartezeit des Advent hat ein großes Ziel: nichts weniger als den Sieg des „So-könnte-es-sein“ über das „So-ist-es-eben!“ Darauf zu warten lohnt sich. Und manchmal riecht es dabei auch nicht allein nach Glühwein und Stollen, sondern auch nach Abenteuer und Fernweh.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

 

Literatur dieser Sendung:

  1. Röm 15,5.
29.07.2022
Matthias Viertel