wie auch wir vergeben

Morgenandacht
wie auch wir vergeben
21.09.2019 - 06:35
18.07.2019
Holger Treutmann
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Wenn es doch wenigstens ein Erdbeben gewesen wäre oder eine andere Naturkatastrophe, aber das war es nicht. Vor 13 Monaten ist die Morandi-Brücke mitten in Genua einfach zusammengebrochen. 47 Tote und viele Verletzte an Leib und Seele sind zu beklagen. Der Schrecken sitzt tief, bis heute. Ein Alptraum, wenn unter mir im Auto plötzlich die Fahrbahn wegbricht.

 

Zum Jahrestag der Katastrophe im Juli gab es eine Gedenkfeier mit Gottesdienst. Noch immer ist die Frage ungeklärt: wie konnte das passieren? Es war eben nicht höhere Gewalt. Sondern eine menschengemachte Katastrophe, auch wenn sich ein unmittelbar Schuldiger noch nicht ausmachen lässt. Die privaten Brückenbetreiber? Die Kontrolleure der prüfenden Unternehmen? Die Konstrukteure von damals, als die Brücke gebaut wurde? Die Regierung? Die Ermittlungen laufen noch. Ob die Schuldfrage abschließend geklärt werden kann, ist offen.

 

Die Angehörigen der Opfer haben gefordert, dass die Brückenbetreiber von der Gedenkfeier ausgeschlossen werden. In den Augen der Angehörigen tragen sie die Verantwortung. Verständlich in ihrem Schmerz. Andererseits wäre es ein Skandal, wenn die Vertreter des Brückenbetreibers sich nicht zum Gedenken angekündigt hätten.

 

Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern...

 

Als gewohnter Beter bin ich schnell über diesen Doppelsatz im Vaterunser hinweg.

Vor Gott im stillen Kämmerlein um Vergebung bitten – das mag gelingen, aber selbst zugehen auf die Betroffenen, die zornig Rechenschaft verlangen? Vergib mir? Vergebt uns? Wie schnell darf ich sein mit einem Schuldeingeständnis, schon aus juristischen Gründen und vor mir selbst?

 

…wie auch wir vergeben unseren Schuldigern

Genau so schwierig ist es für die andere Seite. Sind es die Angehörigen der Unglücksopfer ihren Verstorbenen nicht schuldig, die Vergebungsbitte zurückzuweisen? Würde die Schuld nicht entwertet, wenn sie Vergebung gewähren?

 

Manchmal müssen Hass und Unverständnis schwelen, verkapselt werden, damit sie vorläufig zur Ruhe kommen. Auf die Dauer aber verändern ewige Feindschaften auch die Geschädigten zu ihrem Nachteil.

 

Versöhnung kann helfen. Sie gibt nicht nur dem Täter eine Chance. Auch der Geschädigte kann die Kraft der Vergebung für die eigene Heilung entdecken. Wer vergibt, spricht das falsche Verhalten des Täters nicht gerecht. Sondern kommt heraus aus der Passivität der Opferrolle – in eine Position der Stärke. Gewinnt neue Kraft, das Leben wieder in die eigene Hand zu bekommen. Wenn ich dem begegnen kann, der mir Leid angetan hat. Wenn es mir gelingt, ihn als Mensch anzusehen – und nicht als Monster. Dann wird auch das eigene Wesen menschlicher, weil es die Würde für sich selbst zurückgewinnt. Niemand muss sich auf Dauer aus dem Erlittenen definieren.

 

Versöhnung ist möglich. Sie ist der Schlüssel zu Heil und Heilung. Davon ist die Nagelkreuzgemeinschaft überzeugt. Heute treffen sich die deutschen Mitglieder in Loccum bei Hannover. Ihre Wurzeln hat die Gemeinschaft an der Kathedrale der mittelenglischen Stadt Coventry. Als deutsche Bomber die Kathedrale 1940 in Schutt und Asche gelegt hatten, formulierte der Propst ein Gebet: „Vater vergib“.

 

Drei Nägel aus der Ruine des zerbombten Gotteshauses wurden zu einem Kreuz. Und zum Symbol, unter dem sich weltweit über 200 Nagelkreuzzentren für Frieden und Versöhnung einsetzen. Für Länder, die miteinander im Krieg liegen genauso wie für Einzelne, Täter wie Opfer, die ihren Konflikt nicht überwinden können. Im Gebet bittet die Gemeinschaft um Vergebung, auch stellvertretend für die, die es derzeit nicht können.

 

Die Reste der Brücke in Genua wurden gesprengt. Ob Neues entstehen kann? Beton ist schnell gegossen. Die Seele braucht Zeit.

 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

18.07.2019
Holger Treutmann