Losgesagt von aller Berechnung

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Losgesagt von aller Berechnung
25.04.2020 - 10:00
03.09.2020
Angelika Obert
 

 

 

Bin ich überhaupt wer?

Wer bin ich und wenn ja, wie viele? Der Buchtitel von Richard David Precht ist berühmt geworden. Tatsächlich scheint es ja nicht mehr sicher, ob es das wirklich gibt: die menschliche Seele, das Ich…  Die Neurowissenschaftler vermuten, dass Menschen schließlich auch bloß berechenbar funktionierende Organismen sind. Vielleicht kann man uns eines Tages nachbauen als Roboter, die nicht nur intelligent sind, sondern auch so etwas wie ein Bewusstsein haben. Oder die Menschen selbst werden eines Tages von vornherein so perfekt konditioniert, dass sie genauso störungsfrei funktionieren wie Roboter – gesund, leistungsstark und frei von unangenehmen Gefühlen.

Es ist schon seltsam, dass wir heute, wo wir so viel von Individualismus und Selbstbestimmung sprechen, trotzdem gar nicht mehr richtig wissen, was das eigentlich sein könnte: menschliche Identität.

 

Am Ende doch ein Schaf?

Vielleicht muss ich‘s so genau auch gar nicht wissen, wenn ich mich an das biblische Bildwort halte, das in der christlichen Tradition zum zweiten Sonntag nach Ostern gehört: „Christus spricht: Ich bin der gute Hirte. Meine Schafe hören meine Stimme und ich kenne sie.“ (Johannes 10, 11ff.) Das klingt nun auf den ersten Blick sehr seltsam und altertümlich. Als Schaf will ich nicht angesprochen werden, das ist unter meiner personalen Würde.  Aber ist es das wirklich? Bin ich nicht doch ein Herdenwesen, erst recht heute, wo ich mich von Google und Facebook bewachen lasse? Bin ich nicht ganz und gar geprägt von dem, was in meiner Umgebung gilt? Es ist nicht nur die Frage, was Familie und Freunde sagen. Es ist natürlich auch die neue Kollektion im Schaufenster, die Fernsehserie, das Computerspiel, es sind unzählige Eindrücke, die mich ständig beeinflussen, ohne dass ich mir dessen wirklich bewusst bin.

 

Mitten in der Herde

Das Einzige, was ich immer weiß, ist, dass ich in der Herde, in der ich mitlaufe, einen Platz finden muss. Wer möchte ich gern sein? Die Schöne? Die Erfolgreiche? Die Makellose? Dafür muss ich mich dann aber auch anpassen an das Schönheitsideal oder das Erfolgsideal meiner Zeit, muss mitlaufen, schneller laufen, besser funktionieren als andere.

Am Ende sind es nur Wenige, die es hinkriegen, in der Herde ganz vorn anzukommen. Die meisten bleiben Mittelschafe und haben immer Angst, sie könnten am Ende Verliererschafe sein. So sehen sie sich auch selbst, mal mit Kummer, mal mit Wut im Bauch.

 

Berechenbar

Und alle müssen es sich gefallen lassen, dass sie dann doch berechenbar sind – als Angehörige eines bestimmten Milieus, als Zielgruppe, als Konsumenten, als Wahlvolk, als Publikum. Dass sie kontrollierbar sind, angeblich sogar gläsern durch die Spur, die sie im Internet hinterlassen.

Bin ich das? Die Summe meiner Suchanfragen und Einkäufe? Meiner Seh- und Hörgewohnheiten? Oder wenn mir das zu wenig ist: Bin ich dann vielleicht die Summe der Rollen, die ich im Laufe meines Lebens spiele? Bin ich das? Es gibt genug Stimmen, die mir das nahelegen.

 

Die Stimme, die mich nicht festlegt

Der „gute Hirte“ dagegen, von dem die Bibel spricht, ist eine Stimme, die mich nicht festlegt, mich nicht berechnet, nicht nach meinen Rollen, meiner Kompetenz und Kaufkraft fragt. Die eine Stimme, die sagt: Ich rufe dich bei deinem Namen und ordne dich nicht ein. Ich will, dass du da bist. Du musst nicht funktionieren, du darfst leben. Unter diesem Anruf kann es zur Ruhe kommen, all das Fragen: Wer bin ich und wenn ja, wie viele?

Ich muss das nicht mehr so genau wissen, wenn ich doch verbunden bin mit dem, der mich ins Leben ruft. Aber ich darf wissen, dass ich nicht immerzu mitlaufen muss, um jemand zu sein. Ich darf wissen, dass ich im Innersten nicht einzuordnen bin und zu reduzieren auf  meinen Platz in der Herde. Ich kann es nicht beweisen. Aber ich höre die Stimme, die in deren Liebe ich geborgen bin, losgesagt von aller Berechnung. Die Stimme des guten Hirten.

 

03.09.2020
Angelika Obert