Aus der Tiefe

Wort zum Tage

Gemeinfrei via unsplash/ Christoffer Engström

Aus der Tiefe
mit Melitta Müller-Hansen, gesprochen von Julia Rittner-Kopp
21.03.2022 - 06:20
11.01.2022
Melitta Müller-Hansen
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„Mein Gott, betrübt ist meine Seele in mir, darum denke ich an dich“.

So klingen Psalmen. Ich liebe ihre Sprache. Ihr Wissen, das mir immer wieder hilft.  Mit dem Unbegreiflichen sich an Gott wenden, das Herz ausschütten. Tränen und Schreie und Klagen und manchmal auch Zorn. Meine Seele darf sich zeigen. Stoßseufzer, Hilfeschreie. Mein Gott! Hilf mir! Reiß mich heraus!

„Deine Fluten rauschen daher,                                                                                                                                                          

und eine Tiefe ruft die andere;                                                                                                                                                

alle deine Wasserwogen und Wellen gehen über mich.                                                                              

Ich sage zu Gott, meinem Fels:                                                                                                                    

Warum hast du mich vergessen?                                                                                                                                    

Warum muss ich so traurig gehen?“ (aus Psalm 42)

Die Ohnmacht ertragen, nicht weiter wissen. Die seelische Not, das Geflutetwerden von Angst. Das ist die Größe dieser Sprache.

Ein Wort zieht sich durch viele Psalmen und biblische Texte wie ein Signalwort. Die Urtiefe, die tehom.  Zum ersten Mal taucht sie auf in der Schöpfungsgeschichte: „Die Erde war wüst und leer, es war dunkel über der Urtiefe“. (1. Mose 1, 2) Wir geraten immer wieder in sie hinein. In die Tiefe. In die Chaosmacht. Bei Naturkatastrophen. In Schicksalsschlägen. In Depression und Verzweiflungszuständen. Wenn einer einen Krieg anzettelt. Wenn wir nicht mehr wissen, wo oben und unten, und wo rechts und links ist. Die Theologie hat über die Jahrhunderte Gott als Bezwinger der Chaosmächte großgeschrieben. Ich finde, hier ist ein Umdenken nötig. Die Psalmen geben dem Unfassbaren eine Sprache, in der es nicht mehr um Sieg oder Niederlage geht. Hier rechnet man mit dieser Tiefe, die niemals bezwungen werden kann. „Eine Tiefe ruft die andere“. Ich spüre sie deutlich, wenn ich mit einem Menschen zusammen bin, der eine tiefe Trauer durchlebt. Da ist diese abgründige Tiefe, in der er oder sie zu versinken droht. Und wie ein Resonanzfeld macht sie sich auch in mir bemerkbar. Bodenlos tief ist die eigene innere Landschaft. Man findet fast keine Worte.

Die Psalmen haben sie gefunden und sagen: bitte die Tiefe nicht bekämpfen, nicht beherrschen wollen. Sie ist nicht nur bedrohlich. Sie ist der Stoff, aus dem das Leben kommt. „Der Geist Gottes schwebt über den Wassern der Tiefe“ – das ist der Anfang allen Werdens.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

11.01.2022
Melitta Müller-Hansen