Ecce Homo

Wort zum Tage

Gemeinfrei via Unsplash/ Jonathan Kho Ming Jun

Ecce Homo
mit Barbara Manterfeld-Wormit
09.03.2022 - 06:20
11.01.2022
Barbara Manterfeld-Wormit
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Ich bin jeden Morgen froh, wenn er nicht da ist. Wenn ich auf dem Weg zur Arbeit die Unterführung verlasse, mitten im Strom der Eiligen, werfe ich einen ängstlichen Blick dorthin, wo er zu stehen pflegt: vor der Schaufensterauslage eines Zeitungskiosks neben der Apotheke. Die Füße nackt und bloß auf dem Pflaster – auch bei großer Kälte. Schwarz sind sie, diese Füße, die Haut aufgerissen und kaputt. Er trägt stets dieselbe Hose, darüber eine Weste auf nackter Haut. Seine Haare sind lang und verfilzt. Wie Ötzi aus dem Eis – durchzuckt es mich. Wie alt mag er sein? Ich weiß es nicht. Er steht nur da, guckt keinen an. Er schaut durch mich hindurch. Ein Mensch wie aus der Zeit und aus dem Leben gefallen. Er spricht nicht. Er bettelt auch nicht um Geld. Ist einfach da – erscheint mir auf einem Weg. Immer am selben Platz, als sei er hier zuhause, wo niemand sonst zuhause ist. Er tut keinem etwas. Der Ladenbesitzer kennt ihn. Die Polizei, die hier im Bahnhofsbereich Präsenz zeigt, kennt ihn auch und lässt ihn. Und ich bin jeden Morgen erleichtert, wenn er nicht da ist. Wenn ich ihn nicht sehen muss. Und gleichzeitig schäme ich mich dafür und frage mich, wo er wohl steckt, ob er krank ist, wie es ihm geht.

Es ist ein lebendes Passionsbild, an dem ich morgens vorübergehe. Die Stadt hat viele davon. So ähnlich muss es gewesen sein, als Jesus da stand neben Pilatus. Schweigend. Mit langen Haaren, verwundet. Die Dornenkrone auf dem Kopf. Die Menge vor ihm. Er tut keinem etwas. Aber die Menschen können seinen Anblick nicht ertragen. Sie wollen, dass er verschwindet. Sie können nicht ertragen, was dieser Mensch zu sagen hat - auch ohne Worte: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt!“ Wer so redet, der rechnet ab mit der Welt, so wie sie ist. Wer das verkörpert, hält die schmerzhafte Erinnerung daran wach, dass es auch ganz anders ginge, dieses Leben. Gerechter, schmerzfreier, liebevoller, erfüllter. So dass keiner mehr an dieser Welt verzweifeln muss. Der Mensch zeugt von diesem Reich. Pilatus hat das offenbar erkannt: Ecce homo – Seht, welch ein Mensch! spricht er zu der johlenden Menge, die Jesus am Kreuz verschwinden lassen will.

Heute steht er wieder da. Und ich lasse mich kurz unterbrechen auf meinem alltäglichen Weg im Strom der Berufstätigen. Von einem Menschen, der irgendwann, irgendwie aus dieser Welt und dieser Gesellschaft gefallen ist oder gestoßen wurde und doch einer von uns ist. Ecce homo – Seht, welch ein Mensch.

Es gilt das gesprochene Wort.

11.01.2022
Barbara Manterfeld-Wormit