Martha Lindenblatt

Wort zum Tage
Martha Lindenblatt
26.04.2018 - 06:20
07.03.2018
Thomas Jeutner
Sendung zum Nachhören
Sendung zum Nachlesen

In ihrem Berliner Mietshaus lebt Martha Lindenblatt seit 1923. Da ist sie geboren, zu Hause, an der Bernauer Straße. Hier konnte sie vom Küchenfenster aus noch die alte Versöhnungskirche sehen. Wie sie eingemauert dort gestanden hat, im Grenzstreifen der Berliner Mauer. Den 75 Meter hohen Kirchturm hat sie fallen sehen, als er 1985 gesprengt wurde. Sie sagt, dass es ihr vorgekommen sei, als wenn ein Mensch fällt.

In der Kirche ist sie getauft und eingesegnet worden. Ihre Trauung feierte sie hier, mitten im Weltkrieg. Ein paar Jahre danach wurde ihre Tochter hier getauft. Es dauerte nicht lange, bis mit der Mauer an der Bernauer Straße auch die Kirche eingemauert wurde.

Martha Lindenblatt schmerzte es, nicht mehr zu den Gräbern ihrer Familie gehen zu können. Der Friedhof lag unmittelbar hinter der nun unzugänglichen Kirche. Sie weiß Geschichten zu erzählen von Trauerfeiern, die dort auf dem Ost-Berliner Friedhof stattfanden. Die Angehörigen aus West-Berlin durften nicht über die Grenze. Aber sie wussten die Uhrzeit der Bestattung. Von den Fenstern der westlichen Seite der Straße aus winkten sie mit Taschentüchern hinüber, zu den Gräbern in Ost-Berlin.

Ob sie die vielen Jahre der Teilung unserer Stadt bitter gemacht hat? Bei so einer Frage wird Martha Lindenblatt sehr still. Sie lächelt, wenn sie erzählt, wie das war, ihr Leben an der Mauer. Mit all den Leuten, die hier lebten, und weggezogen sind. Weil sie die depressive Stimmung nicht mehr aushielten. Bei ihr sei es anders gewesen, erzählt die Hochbetagte. Die Nachbarschaft habe zusammengehalten. Außerdem hatte ja ihr Mann noch gelebt, der verwurzelt war mit dem Weddinger Kiez. Und ihre Tochter wohnte im gleichen Aufgang.

Beide, ihr Mann, und ihre Tochter, leben nicht mehr. Sie liegen, wie viele andere, deren Geschichten sie bewahrt, auf dem Friedhof hinter der ehemaligen Versöhnungskirche. Als sie noch allein gehen konnte, wanderte sie jeden Tag zu ihren Gräbern. Nach 1989 brauchte sie dafür nur über die Straße zu gehen. Für die kleine Pforte, die durch unseren Gemeinschaftsgarten auf den Friedhof führt, hatte sie einen Schlüssel. Bis heute bestaunt sie das neue Leben, das dort auf dem Grenzstreifen erblüht.

Bei allen Wunden, die Krieg und Teilung den Bewohnern beiderseits der Bernauer Straße zufügten, hat sie sich einen besonderen Blick bewahrt. Sie lebt, was der Dichter vom Psalm 103 dichtete: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat“. Für viele ist Martha Lindenblatt damit eine Lehrerin: für den weisen und frommen Umgang mit den Schicksalen des Lebens. Heute feiert sie Geburtstag. Sie wird 95 Jahre alt.

07.03.2018
Thomas Jeutner