Weltschmerz

Wort zum Tage

Gemeinfrei via Unsplash/ Madison Oren

Weltschmerz
von Pfarrerin Melitta Müller-Hansen
31.05.2023 - 06:20
19.04.2023
Pfarrerin Melitta Müller-Hansen
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„Ich bin kein glücklicher Mensch, aber ich bin ein fröhlicher Mensch!“ Diese etwas paradoxe Selbstbeschreibung stammt von der portugiesischen Sängerin Amália Rodrigues. Sie war die Stimme des Fado im 20 Jhdt. Und hat dem Ausdruck verliehen, was auf Deutsch „Weltschmerz“ heißt. Portugiesisch „Saudade“. Rumänisch Dor. Eine Mischung aus tiefer Sehnsucht nach dem, wie es sein könnte, müsste, wenn es in der Welt mit rechten Dingen zugehen würde. Nach göttlichen Maßstäben. Und einer Traurigkeit über alles, was dagegen arbeitet. Über die große Walzmaschine der Destruktion, die das Menschliche immer wieder zu zermalmen vermag. Armut, unglückliche Liebe, Ungerechtigkeiten aller Art. Weltschmerz ist ein ziehendes Gefühl in der Brust. Diejenigen, die hinschauen und teilnehmen mit wachen Augen und offenen Herzen, leiden meistens darunter.

Amalia Rodrigues hat das mit einer tiefen Stimme, mit einem unhörbaren Schrei in ihren Liedern ausgedrückt. Ich habe sie nie live singen gehört. Aber eine ihrer weniger bekannten Schülerinnen in einer Fado-Bar in Lissabon. Ein Abendessen mit Freunden und meinem Mann und ich sitze da an diesem Tisch und ströme über von Tränen. Als wären bei dieser Musik tiefsitzende und verschüttete Quellen in mir wieder aufgebrochen. Das ganze vernünftige Zeug der Erwachsenen: „Reiß dich zusammen, das sind nun mal die Sachzwänge. Da musst du durch. Ich schau jetzt nicht mehr hin, was kann ich schon tun? Ach, stell dich nicht immer so an! Mein Gott, andere haben ganz andere Schmerzen zu ertragen!“ Der Schutt der Gottesferne, der Hartherzigkeit. Wie wohltuend, wenn er mal wieder weggeschwemmt wird! Das ist mir damals in dieser Fado-Bar geschehen und ich konnte mich ungehindert dem hingeben, was darunter verborgen lag: Der Sehnsucht, der Traurigkeit. Ich glaube, das ist die menschlichste Reaktion auf die Wirklichkeit. Weltschmerz, saudade, dor.

Nicht glücklich, aber fröhlich. So sagte es Amalia. Und das stimmt auch: Wenn ich die kleinste Schönheit in diesem Leben entdecke und feiere und groß mache - meine großen und kleinen Lieben. Abschiede, Wiedersehen, himmlische Augenblicke – dann schießt sie hoch in mir die Freude, wie eine Flamme.  „Ihr habt nun Traurigkeit – aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen.“ Die Klammer zwischen Traurigkeit und Freude gibt es auch bei Jesus und seinen Freundinnen und Freunden. Fado ist eine Musik dazu. Und der Geist von Pfingsten, den ich täglich, stündlich herbeirufen kann. Komm, bester Tränentrockner, liebster Seelengast. Schenk mir Trost, mach mich wieder froh!

Es gilt das gesprochene Wort.

19.04.2023
Pfarrerin Melitta Müller-Hansen