Wieder ein ganzer Mensch werden

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Wohin gehst du, fragt der Engel. 

Na, auf alle Fälle nicht mehr zurück, sagt sie. Da ist sie 48 und gerade nach einem Crash hier gestrandet. Einigermaßen demoliert. Seelisch, körperlich. Verausgabt über Jahre. 

Sie wollte für ihre Ideale einstehen. Etwas investieren. Für gerechtere Verhältnisse, für Menschen mit schlechten Chancen. Deshalb ist sie ja Politikerin geworden. 

Aber was dann kam, hatte mit ihren Idealen nichts mehr zu tun. Sie konnte tun und lassen, was sie wollte, sie wurde hart angegangen. Beileibe nicht nur von der Opposition. Auch von ihren eigenen Leuten, die ihr Fähnchen gerne in den Wind hängen. Die je nach Meinungsumfrage mal Hü, mal Hott sagen. Auch und erst recht in den sogenannten sozialen Medien. Häme, Boshaftigkeit, Niedertracht, Drohungen. Die betrafen dann auch ihre Familie. Und als ein Stein flog und die Glasscheibe klirrte, da zerbrach auch ihre Motivation. 

Wohin gehst du, fragt der Engel noch einmal.  

Keine Ahnung, sagt sie.  

Aber den Zirkus mache ich nicht mehr mit. Ich werde nicht zur Sklavin der Dummen. Ich lasse mich nicht wieder in die Fallstricke der öffentlichen Erregung verwickeln. Bangen vor den nächsten Umfragen. Und dem nächsten Briefumschlag mit weißem Pulver. Ich bin keine, die ihre Positionen zurücknimmt, wenn die Schreihälse „Verrat“ brüllen. Und kein Spielball der Demoskopen. Das ist vorbei. Ich will wieder ein ganzer Mensch werden, heil und freundlich. Auch wenn es dauert. 

Ruh dich aus, sagt der Engel. 

Sie entspannt. Lässt sich Zeit. 

Die Ruhe bringt ihre (guten) Gaben wieder ans Tageslicht: ihren analytischen Blick, ihren Gestaltungswillen. Klar kann sie zupacken. Und klar ist sie mit allen Wassern gewaschen. Kann sich durchsetzen – auch in Männerbünden. Und immer noch schlägt ihr Herz für die ohne Perspektive. Besonders die Kinder.

In ihr arbeitet es. 

Das ist so kostbar, sagt der Engel. Du hast dein Thema, du bist motiviert. Und du hast ein Mandat. Du stehst da nicht für dich, du stehst da für die Sache. Für die lohnt es sich, zu streiten. Du kannst Projekte in die Welt setzen, sie begleiten. Wärest du bereit? Ja, es würde Demut verlangen. Du wirst viel aushalten müssen. Aber Gott sieht dich aus den Augen der Kinder an. Lauf nicht weg. 

Sie schweigt. Lange. Tausend Gedanken kreisen durch ihren Kopf. 

Zurückgehen? Was für eine kühne Idee. Aber wenn Gott mich ansieht, dann werde ich wenigstens gesehen. Dann ist es anders. Irgendwie erträglicher. Dann ergibt es Sinn. 

Ihr ist es, als wenn jemand die Wolken langsam beiseite zieht, und es kommt wieder die Sonne durch. 

Es gilt das gesprochene Wort.