Yad Vashem

Wort zum Tage

Gemeinfrei via unsplash/ Snowscat

Yad Vashem
mit Nora Tschepe-Wiesinger
27.07.2022 - 06:20
11.06.2022
Nora Tschepe-Wiesinger
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„Eine Synagoge wurde verbrannt, eine andere steht in Flammen. Die Deutschen haben etwas Krankhaftes an sich“, schreibt Dawid Sierakowiak am 15. November 1939 in sein Tagebuch. Dawid ist 15 Jahre alt, liest viel, ist Klassenbester. Mit seiner Schwester Natalia und seinen Eltern lebt er im polnischen Lodz. Im September 1939 marschiert die deutsche Wehrmacht in Polen ein und macht aus Lodz ein jüdisches Ghetto. In seinem Tagebuch schreibt Dawid, dass er nicht mehr zur Schule gehen kann, ständig Hunger hat, es keine Medikamente gibt. Im August 1943 bekommt er Tuberkulose. Er wird nur 19 Jahre alt, seine Mutter und Schwester werden in Auschwitz ermordet.

Ich lese von Dawids Geschichte in Yad Vashem, der israelischen Gedenkstätte, die an die systematische Judenvernichtung durch die Nationalsozialisten während des Zweiten Weltkriegs erinnert. Ich schaue mir Schlüssel, Schuhe und Kämme der Toten an, gestreifte Häftlingsuniformen, Fotos von Leichenbergen. Und frage mich: Hat Dawid Sierakowiak mit seiner Beobachtung recht? Ist an uns Deutschen etwas Krankhaftes?

In Yad Vashem gibt es einen Ausstellungsraum, der eingerichtet ist wie das Wohnzimmer einer deutsch-jüdischen Familie in den 1930er-Jahren. Im Bücherregal steht eine deutsche Talmud-Übersetzung neben den Werken von Goethe und Schiller. Die Menora, der siebenarmige jüdische Leuchter, steht auf dem Fensterbrett, am Gebäude dahinter ist die Hakenkreuz-Flagge der Nationalsozialisten gehisst. Die Nationalsozialisten haben das jüdische Leben in Deutschland im Zweiten Weltkrieg fast vollständig ausgelöscht.

Durch die Gräueltaten des Holocaust haben Deutschland und Israel eine besondere Verbindung. Bei seinem Antrittsbesuch in Israel im März sprach Bundeskanzler Olaf Scholz von einer andauernden historischen Verantwortung Deutschlands für den Staat Israel.

Viele meiner neuen israelischen Freundinnen und Freunde zieht es nach Berlin. Sie lernen Deutsch, wollen die Texte von Theodor Adorno, Stefan Zweig und Hannah Arendt im Original lesen, alles deutsch-jüdische Intellektuelle, die mit Beginn der Diktatur der Nationalsozialisten aus Deutschland fliehen mussten. Ich bin dankbar, dass ich heute mit jüdischen Israelis befreundet bin, die Berlin als plurale und weltoffene Stadt wahrnehmen. Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass Jüdinnen und Juden wieder in Deutschland leben wollen. Dass sie es angstfrei tun können, liegt in unserer gemeinsamen Verantwortung, in der jedes Einzelnen. Ich möchte das Meine dazu beitragen, dass dies auch in Zukunft so bleibt.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

11.06.2022
Nora Tschepe-Wiesinger