Wort zum Tage
Gemeinfrei via Unsplash/ Robert Bye
Evangelisch in Jerusalem
mit Nora Tschepe-Wiesinger
28.07.2022 06:20
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Die Glocken der Erlöserkirche läuten, nachdem der Imam der Moschee gegenüber zum Mittagsgebet gerufen hat. Vor der Kirche verkaufen Händler Falafel, Seidenschals, kleine Menora aus Messing und Kreuze aus Holz. Zwei Jahre lang war es hier ruhig wegen der Corona-Pandemie, jetzt drängen sich in den engen Gassen wieder Touristen.

Die evangelische Erlöserkirche liegt mitten in der Jerusalemer Altstadt, zwischen christlichem und muslimischem Viertel. "Eine Oase" – das sagen fast Alle, die von draußen in das kühle Innenschiff der Kirche gespült werden. Jeden Mittag um zwölf findet eine kurze Andacht statt, im Café der Kirche kann man Käsekuchen unter Feigenbäumen essen. Für evangelische Christinnen und Christen, die in Jerusalem arbeiten, einen Freiwilligendienst machen, studieren oder hier bloß zu Besuch sind, ist die Erlöserkirche ein Stück Heimat in der Fremde. Die Gottesdienste finden auf Deutsch statt, es gibt einen Chor, Gemeindeabende, Konzerte. Viele, die sich einmal in der Erlöserkirche zu Hause gefühlt haben, kommen wieder. Das Ehepaar Kathrin und Klaus Thomas aus dem Hunsrück zum Beispiel, die zum ersten Mal vor acht Jahren in Israel waren. Jetzt sind beide im Ruhestand und betreiben seit September das Café Auguste der Himmelfahrtkirche auf dem gegenüberliegenden Ölberg in Ost-Jerusalem. Jeden Mittwoch laden sie dort zum After-Work-Dinner ein und kochen für die deutsche Gemeinde. Mal gibt es Pasta, mal Hummus, palästinensisches Bier und israelischen Wein. Jerusalem gleiche oft einem religiösen Disneyland, sagt Kathrin. Umso mehr brauche es Orte der Ruhe wie die Erlöser- und die Himmelfahrtkirche mit ihren Cafés.

Ich habe mich in den letzten neun Monaten oft gefragt, wo mein Platz als evangelische Christin in Jerusalem ist, einer Stadt, in der Religion so präsent, so alltäglich, aber auch so konfliktgeladen ist. Manchmal habe ich diesen Platz in den Kirchenbänken der Erlöserkirche gefunden. An Weihnachten habe ich hier "Stille Nacht, Heilige Nacht" gesungen, an Ostern "Der Herr ist auferstanden".

Vor ein paar Wochen habe ich zwei israelische Freunde zum After-Work-Dinner ins Café Auguste mitgenommen. Zum Ölberg in den arabischen Ost-Teil der Stadt gehen sie fast nie – aus Verunsicherung und Furcht. Zusammen sind wir auf den Kirchturm der Himmelfahrtkirche gestiegen. Die Sicht war klar, auf der einen Seite konnte man über die judäische Wüste bis zum Toten Meer sehen, auf der anderen Seite lag Jerusalem zu unseren Füßen. Von oben betrachtet wirkte die Stadt ganz friedlich, golden – und ja, tatsächlich heilig.

Es gilt das gesprochene Wort.