Gemeinfrei via pixabay/ Lucarthb
Chuzpe und Gastfreundschaft
mit Nora Tschepe-Wiesinger
30.07.2022 06:20
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Ich sitze in einem Café auf der belebten Jaffa Street im Zentrum Jerusalems und bestelle einen schwarzen Kaffee ‚im hel - mit Kardamom‘. Die Kellnerin merkt mir meinen deutschen Akzent an. "Woher kommst du?", fragt sie mich interessiert. Ich antworte, sie fragt weiter: was ich studiere, seit wann ich in Jerusalem sei, ob es mir hier gefalle. Irgendwann sind meine Hebräischkenntnisse erschöpft und wir wechseln ins Englische. Sie erzählt mir, dass sie Bassistin in einer Band sei. Am Wochenende hätten sie einen Auftritt – ich sei eingeladen. Sie gibt mir ihre Handynummer.

Während meiner vergangenen neun Monate in Israel hatte ich viele Begegnungen dieser Art: in der Uni, auf dem Markt, beim Wandern. Die Israelis halten nicht viel von der sogenannten Privatsphäre. Ungehemmt haben mir völlig Fremde im Bus ihre Lebensgeschichte erzählt, mich zum Shabbatessen oder zu einem der vielen jüdischen Feiertage in ihre Familien eingeladen.

Ich habe mich in Israel und im palästinensischen Westjordanland oft gefragt, warum wir Deutsche im Vergleich so unterkühlt und gehemmt sind. Liegt es am Wetter? Leiden wir an kollektivem Vitamin-D-Mangel? Oder ist es womöglich die oft festgestellte German Angst, die uns lähmt: ein ausgeprägtes Sicherheitsbedürfnis gepaart mit einer verminderten Risikobereitschaft? In Israel findet das Leben selbst im Winter auf den Straßen statt. Israelis sind stolz auf die kollektive Chuzpe, eine Mischung aus argloser Unerschrockenheit und charmanter Dreistigkeit. Nicht umsonst gilt Israel als Startup-Nation.

In Israel habe ich gelernt, mir selbst mehr zuzutrauen und weniger Angst zu haben. Und ich habe erfahren, wie viel leichter es ist, in einem Land fremd zu sein, wenn die Menschen einen dort mit offenen Armen willkommen heißen. Mir fällt es schwer zu verstehen, wie ein Land mich so warmherzig aufnehmen kann, während Palästinenserinnen und Palästinenser in demselben Land in vielen Kontexten diskriminiert und ausgegrenzt werden. Israel ist ein gespaltenes, widersprüchliches, lautes, in jeder Hinsicht intensives Land. In der Bibel betet König David in einem Psalm:

"Erbittet Frieden für Jerusalem! Geborgen seien, die dich lieben. Friede sei in deinen Mauern, Geborgenheit in deinen Häusern! Wegen meiner Brüder und meiner Freunde will ich sagen: In dir sei Friede." (Psalm 122, 6-8) Ich habe Freunde in Jerusalem, Israelis und Palästinenser, im Ost- und Westteil der Stadt, die mir am Herzen liegen. Wie König David vor 3000 Jahren bitte auch ich für Shalom, Salam, Frieden für eine Stadt, die auch mir zum Zuhause geworden ist.

Es gilt das gesprochene Wort.