Zeitbewusstheit

Wort zum Tage

Gemeinfrei via Unsplash/ Matt Tsai

Zeitbewusstheit
mit Melitta Müller-Hansen, gesprochen von Julia Rittner-Kopp
26.03.2022 - 06:20
11.01.2022
Melitta Müller-Hansen
Sendung zum Nachhören
Feedback zur Sendung? Hier geht's zur Umfrage! 
Sendung zum Nachlesen

Die junge Studentin der Geologie, Marcia Bjornerud, ist zusammen mit anderen in den Rocky Mountains auf Erkundungstour. Sie haben von einer alten Pegmatitmine gehört. Pegmatite sind Vulkangesteine, auf denen sich übergroße Kristalle ablagern, auch farbige Mineralien und seltene Erden. Pegmatite sind nicht erneuerbar - und die in der Mine der Rocky Mountains, auf die die Studenten es abgesehen haben, sind 1,5 Milliarden Jahre alt. Also unglaubliche Kostbarkeiten. Sie betreten die Mine und sind geblendet von Schönheit.  Der jungen Geologin sticht ein Turmalin besonders ins Auge. Tief rosa innen und am Rand ein wunderschöner grüner Streifen. Wie eine kleine versteinerte Wassermelone mit 8 cm Durchmesser. Der Turmalin befindet sich in einem schwierigen Winkel an der Decke, aber sie will ihn unbedingt haben. Sie sieht schon vor sich, wie er in ihrer Wohnzimmervitrine als Prachtstück leuchten würde und beginnt, ihn mit ihrem Geologenhammer herauszulösen. Doch der ist viel zu grob. Und mit nur einem Schlag zertrümmert sie den Turmalin. In einer habgierigen Sekunde habe sie leichthin eine kleine Herrlichkeit zerstört, sagt sie. Eine Herrlichkeit, die dort ein Drittel der ganzen Erdgeschichte miterlebt hat. 

„Mir wurde ganz schlecht angesichts der Zerstörung um mich herum und in dem Wissen, dass ich daran teilhatte“, bekennt Marcia Bjornerud in ihrem Buch „Zeitbewusstheit“.  „Timefullness“ beschreibt noch besser, worum es ihr geht. Dass wir zeitvergessen sind. Und versessen auf unsere Gegenwart. Es passiert sogar ihr als Studentin der Geologie, die so viel weiß über die Geschichte dieser Erde. Über das langsam über Jahrmillionen Gewordene, in dem wir uns alle bewegen. Über Tiefenzeit, wie sie es nennt. Es passiert sogar ihr, dass sie die Ehrfurcht davor vergisst. Und sie sagt: das ist paradigmatisch für unsere Kultur. Es gibt wenig, was bleibt, bleibenden Wert behält. Wir aber sind umgeben von Leben, das langsam geworden ist. Im Gestein, in der Landschaft, im Grundwasser, in Gletschern und Ökosystemen ist immer diese ganze Vergangenheit gespeichert.

Ich schau mir gerne an, wie Menschen früher gelebt haben. Ruinen, alte Kirchen, alte Tempel. Nun hab ich mich mit einem Freund verabredet, der mir etwas von dem Gewordensein der Erde zeigen kann. Und zwar in meiner unmittelbaren Umgebung. Da wo ich heute lebe.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

11.01.2022
Melitta Müller-Hansen