Das Wort zum Sonntag: "Namen " - (11. September)

Das Wort zum Sonntag: "Namen " - (11. September)
Pfarrer Ulrich Haag
10.09.2011 - 21:25

Pamela Boyce.
Kevin Smith.

Fast 3000 Namen sind es, die Morgen verlesen werden. In New York, wo vor 10 Jahren die Zwillingstürme in sich zusammenfielen. Beinahe kann ich die Bilder nicht mehr sehen. Zugleich ziehen sie mich noch immer in ihren Bann. Sie erinnern mich an mein ungläubiges Entsetzen damals. An meine Hilflosigkeit. An das Gestammel, mit dem ich meine Kinder vom Fernseher wegschickte. Ist das bei uns, Papa? Nein, bei uns war es nicht, wir waren damals vom Geschehen nicht unmittelbar betroffen.

Die Bilder kamen von weit weg – und doch beinahe in Echtzeit. Ob ich wollte oder nicht, ich habe Anteil daran genommen. Auch beim Gedenken morgen am Ground Zero bin ich nicht direkt dabei, doch ich werde Anteil nehmen. Die Bilder sehen. Namen aus der langen Liste derer hören, die ums Leben gekommen sind. Linda Shehan, Luigi Calvi. Mit jedem, mit jeder verbindet sich ein Gesicht. Verbindet sich eine Geschichte. Verbindet sich die Trauer einer Mutter, eines Vaters, der Frau, der Kinder.

"Als er ging, verabschiedete er sich wie immer. Aber er kam nicht zurück." Geschichten, die uns berühren. Wir dürfen uns berühren lassen. Allerdings kann ich an den 11. September nicht denken, ohne das, was danach kam. Vielleicht liegt das gerade daran, dass ich nicht unmittelbar von den Anschlägen betroffen bin. Ich denke an die Kriege, die folgten. Denke an die Soldaten und Helfer, die in Afghanistan ums Leben gekommen sind. Lese im Internet Vornamen wie Thomas, Stephan, Boris. Denke an die, die ihr Leben bis heute dort einsetzen.

Ich denke auch an die vielen hunderttausend zivilen Opfer der Attacken und Bombardements. Sie tragen Namen, die in unseren Ohren fremd klingen, Aiman, Lajla, Abedsalaam. Die Trauer ist die gleiche, hier wie dort. Mit jedem Namen verbindet sich ein Gesicht, eine Geschichte. Er verabschiedete sich wie immer. Er kam nicht zurück.

Wann sind genug Namen genannt, genug Tote beweint? Wann hört das auf: Schlag und Gegenschlag, Anschlag und Vergeltung. Wir sehnen uns nach einem friedlichen Miteinander der Kulturen. Doch die Namen derer, die auf der einen Seite als Helden verehrt werden, darf man auf der anderen Seite nicht einmal nennen.

So bleibt die Welt wohl ewig in den Händen der Gestrigen, die noch immer Anschläge planen und den Hass durch neue Untaten schüren. Bleibt gespalten in Freund und Feind. Irrtum. Längst ist eine neue Generation auf dem Weg. Die Kinder, die damals mit fragenden Augen am Fernseher saßen, sind heute zwanzig. Sie verabreden sich mit ihren Altersgenossen über den gesamten Globus hinweg, quer zu allen Grenzen und Gegensätzen. Pamela, Thomas, Lajla und Kim: In Echtzeit tauschen sie ihre Nachrichten aus. Und plötzlich wanken die Systeme, stürzen die Diktatoren.

Einen gibt es, der die Kinder dieser Welt von Angesicht kennt. Der sie gerufen hat, beim Namen gerufen hat, alle. Auf seinen Listen stehen ihre Familien bunt gemischt. Er bringt sie zusammen. Und ihre zerbrechlichen Geschichten bringt er zum Ziel.

Stephan, Patrick, Aiman: Sie verabschiedeten sich wie immer. Wir werden sie wiedersehen. Linda, Luigi, Abedsalaam. Wo der Ewige uns beim Namen ruft, wird die Welt endlich eins.

Ihnen einen guten Abend und einen gesegneten Sonntag.