Rund oder unrund?

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Rund oder unrund?
Pfarrer Gereon Alter
08.10.2016 - 23:55

Guten Abend meine Damen und Herren.

„Wir wissen ja nicht, ob wir das nächste runde Jubiläum noch erreichen.“ – Mit diesen Worten werde ich als Pfarrer immer häufiger zu unrunden Jubiläen eingeladen: zu einem groß gefeierten fünfundvierzigsten Hochzeitstag, zum fünfunddreißigjährigen Bestehen einer Einrichtung oder – wie noch diese Woche – zu einem einhundertelfjährigen Vereinsjubiläum. „Wenn das so weitergeht“, sage ich manchmal scherzhaft, „feiern wir demnächst den siebenundzwanzigeinhalb Jahre zurückliegenden Einbau der Kegelbahn in unser Gemeindezentrum.“

Aber so lustig ist das gar nicht. Denn mal abgesehen davon, dass ich es kaum schaffe, diese vielen Jubiläumstermine wahrzunehmen, haben sie für mich oft auch einen fahlen Beigeschmack: „Wir wissen ja nicht, ob wir das nächste runde Jubiläum noch erreichen.“ Da schwingt Angst mit. Zukunftsangst. Ob wir dann noch zusammen sind? Ob es unseren Verein noch geben wird? Ob es uns noch gut gehen wird? Besser, wir feiern jetzt schon mal!

Ich halte das für symptomatisch – für eine Gesellschaft, die sich mehr an dem orientiert, was sie hat, als an dem, was noch kommen und werden kann. Symptomatisch für eine Gesellschaft, die sich ängstlich an ihre Besitzstände klammert, anstatt zuversichtlich in die Zukunft zu gehen. Symptomatisch auch für eine Gesellschaft, die Angst vor dem Anderen und dem Neuen hat und daher lieber bei sich und beim Eigenen bleibt. – Dabei hatte das Jubiläum ursprünglich einmal genau diesen Sinn: Den Aufbruch zu etwas Neuem zu ermöglichen.

Sie ahnen es: Der Ursprung des Jubiläums liegt in der Bibel. Genauer: im Alten Testament, im Buch Levitikus. Da heißt es: „Erklärt das fünfzigste Jahr für heilig, und ruft Freiheit für alle Bewohner aus. Es gelte euch als Jubeljahr.“ (Lev 25,10). – „Das fünfzigste Jahr“: das, was da gefeiert wird, kann man nicht alle paar Jahre wiederholen. Das geht nur „alle Jubeljahre“. Denn es geht um etwas Großes. Es geht um Freiheit. Das Jubeljahr war ursprünglich einmal ein Jahr der Befreiung. Ein Jahr, in dem bewusst Altes losgelassen und aufgegeben wurde, um in Freiheit Neues ergreifen zu können. Wer in Abhängigkeit geraten war, dem wurde neue Selbständigkeit gewährt. Wer sich verschuldet hatte, dem wurden seine Schulden erlassen. Wer seinen Grundbesitz verloren hatte, dem wurde neuer zugeteilt. Eine Sozialreform, würden wir heute sagen.

Dahinter stand die Überzeugung, dass unser Leben und alles, was wir haben, letztlich verdankt ist. Und dass es unsere Aufgabe ist, so damit umzugehen, dass alle in Freiheit und Würde leben können. Also gerade nicht: Ängstliches Festklammern an dem, was ich habe und als mein Eigentum betrachte – aus Sorge, ich könnte es verlieren. Sondern: Dankbarkeit für alles, was mir geschenkt worden ist, und die Bereitschaft, es mit anderen zu teilen – auf dass alle eine gute Zukunft haben.

„Dem Vergangenen: Dank. Dem Kommenden: Ja!“ hat der frühere UN-Generalsekretär und Friedensnobelpreisträger Dag Hammerskjöld gesagt. Das ist der ursprüngliche Sinn eines Jubiläums. Nicht das ängstliche Festhalten des Vergangenen, sondern das mutige Hineingehen in die Zukunft und die Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen.

Wie wäre es, wir hätten ein wenig mehr von diesem Geist? Nicht nur in unserem persönlichen Leben, sondern auch in unserer Gesellschaft. Wir wären eine mutige und zukunftsfähige Gesellschaft. Wir hätten die Kraft, Anderes und Neues in das Bestehende zu integrieren. Wir wären eine freiheitsliebende, soziale und gerechte Gesellschaft. Und: Wir hätten dann und wann etwas wirklich Rundes zu feiern.