Zur Ruhe kommen

Zur Ruhe kommen
Pfr. Ulrich Haag
11.12.2010 - 23:10

Zur Ruhe kommen

"Was bist du so unruhig, meine Seele. Werde still, lass Gott zu dir kommen." An diesen Vers aus den Psalmen musste ich denken, als ich gestern Nachmittag endlich die lang ersehnte Lücke im Kalender hatte. Seit Tagen hatte ich mir vorgenommen, dann nur dies eine zu tun: Eine Kerze anzünden und mich gemütlich auf die Couch setzen. Werde still, meine Seele.

Da saß ich nun und schaute, wie die Dämmerung langsam in unseren verschneiten Garten sank. Aber in meinem Kopf arbeitete es. Eine gepflegte Tasse Tee wäre jetzt genau das richtige. Sie könnte diesen Moment der Ruhe perfekt vollenden. Schon war ich auf dem Sprung in die Küche. Aber stopp. Nichts tun, gar nichts, eine volle Stunde lang, das war es doch, was ich mir vorgenommen hatte!

Leichter gesagt als getan. Irgendetwas in mir war ständig damit beschäftigt, mich in Bewegung zu bringen: Deine E-Mails musst du noch checken. Den Elektriker musst du noch anrufen, wegen der Spülmaschine. Und die Beiträge für die Autoversicherung überweisen! Heute läuft die die Frist ab! Alarm in meinem Kopf. Als wäre ein Damm gebrochen, überfluteten mich Termine, Verpflichtungen und Unerledigtes.

Irgendwann habe ich es nicht mehr ausgehalten, habe mir einen Zettel geholt und wenigstens alles aufgeschrieben. To-do-Liste nennt man das in modernem Deutsch, und im Handumdrehen war sie ein gutes Dutzend Stichpunkte lang. Was bist du so unruhig meine Seele.

Wie schwer ist es doch, einmal völlig abzuschalten. Geistig und seelisch offline zu gehen, sozusagen. Von alters her ist es die Adventszeit, in der die Menschen das kultivieren. Eine, zwei, drei, vier Kerzen bis Weihnachten, frühe Dämmerung, lange Abende. Wie geschaffen dazu, sich einmal aus allem rauszuziehen. Und doch unternehmen wir jede Anstrengung, damit es um uns her und vor allem in uns drin nicht wirklich ruhig wird.

Wir hetzen durch Innenstädte und Einkaufspassagen. Verstricken uns in ein heilloses Gestrüpp aus Kaufen und Schenken. Wo trotzdem Zeitlücken entstehen, zücken wir das Handy, oder lassen uns von Musik und Bildern berieseln. Sie ist schwer auszuhalten, die Stille. Für manche ist sie kaum zu ertragen.

Die Hirnforschung hat herausgefunden, dass sich das menschliche Gehirn ständig in Aktivität befindet, selbst wenn es so aussieht, als täte der Mensch nichts. In Phasen der Ruhe vernetzen sich Gehirnregionen, die unter Stress nicht mit einander in Berührung kommen. Mein Denkapparat findet dabei Lösungen, auf die ich niemals gekommen wäre, wenn ich einfach weitergemacht hätte.

Eine uralte Weisheit: Wenn meine Seele zur Ruhe kommt, tun sich Welten auf.

Gestern Nachmittag hat das fast eine dreiviertel Stunde gedauert. Dann endlich war es so weit. Ich saß da, schaute der Kerze zu, dem Spiel der Schatten an der Wand. Auf dem Wohnzimmerschrank tickte die Uhr, langsam wanderten die Zeiger. Längst hatten sie die volle Stunde überschritten. Draußen hatte es zu schneien begonnen. Mein Blick fiel auf den Zettel mit der Liste. Merkwürdig, selbst das, was ich dick unterstrichen hatte, so vordringlich schien es mir gar nicht mehr. Werde still, meine Seele, lass Gott zu dir kommen.

Ihnen allen einen guten Abend und einen Sonntag in Stille.