Wort zum Tage
Verwandelt werden
23.11.2019 06:20
Sendung zum Nachlesen

In diesen Tagen legen sich bei mir die Bilder vom Tod über die Bilder des Lebens. Das ist jedes Jahr so, kurz vor Totensonntag, die Gemütlichkeit des Advents oft dahinter schon in Reichweite. Ich denke an meine lieben Toten. Es zieht mich an ihre Gräber. Wir haben sie längst winterfest gemacht. Im frühen Dunkel dieser Tage flackert und zuckt es unruhig rot und gelb über vielen Gräbern. Ein Sinnbild für unsere eigenen aufgeschreckten Seelen, für unsere blassen Erinnerungen im Dunkel unserer Trauer, für die Fragen und Zweifel. Unsere Seelen können wir nicht schützen vor der Kälte und Härte, vor dem Schmerz und der Verzweiflung, indem wir sie abdecken. Wollen wir Menschen bleiben, bleiben wir verletzlich auch an unserer Seele. Es gibt diesen Augenblick, in dem sich ein ganzes Leben ändert, wenn das Telefon klingelt und man sich wünscht, nie rangegangen zu sein. Oder man macht diesen einen falschen Schritt und denkt sich nichts dabei. Man setzt sich zum Abendessen, man tanzt und das Leben, das man kennt, hört auf. Alles, was uns sonst so wichtig und selbstverständlich und lieb und teuer ist, was unser Leben von Tag zu Tag so ausmacht, wird zur Nebensache und fällt in die Schlucht tiefer Belanglosigkeit, wenn der Tod ins Leben einbricht. Die Bilder des Sterbens fragen nach unserem Leben. Sie stellen die Frage nach der Zeit und dem, was diese Zeit, unsere Lebenszeit, ausgemacht hat. Womit wir die Tage rumgebracht haben, was wir mit unseren Worten, mit unseren Händen, mit unseren Gedanken geschaffen haben. Mit den Worten Jesu im Ohr heißt das: Ob wir Hungrige satt gemacht haben und ihren Durst stillten, ob wir Fremde aufnahmen und die Armen teilnehmen ließen am Wohlstand unserer Zeit. An Gräbern geben manchmal Stichworte oder Zeichen, eingraviert in den Stein oder in die Platte auf dem Boden Hinweise auf das Leben der Toten: ein Zirkel verweist auf das Leben eines Architekten, große, lederne Fausthandschuhe am Holzkreuz erinnern an einen Boxer, ich lese Bäcker, Komponist, Dichterin. Ich sehe Teddybären und bunte Windspiele. Die Fragen an den Gräbern sind die Fragen nach unserem eigenen Leben mit- und füreinander; und auch vor Gott. Von dem es heißt, dass er uns im Leben begegnet und hält und dass er uns im Sterben auffängt: unvollkommene, verletzte, oft gebrochene Menschen, um sie zu verwandeln, damit sie leben in Ewigkeit.

 

Es gilt das gesprochene Wort.