Wort zum Tage
Der Mittelpunkt
11.02.2021 05:20
Sendung zum Nachlesen

Viele sehnen sich nach einem guten Leben und überlegen, was es dazu vor allem braucht. Von Meister Eckhart, dem Mystiker im späten Mittelalter, stammt der folgende Vorschlag: „Die ein gutes Leben beginnen wollen, sollen es machen wie einer, der einen Kreis zieht. Hat er den Mittelpunkt des Kreises richtig angesetzt und steht der fest, so wird die Kreislinie gut.“

Ich erinnere mich: Ich brauchte damals für die Schule einen Zirkel.  Nach einigem Hin und Her bekam ich einen ganzen Zirkelkasten geschenkt. In einem schönen schwarzen, blau ausgeschlagenen Etui lagen die faszinierenden Instrumente zum Gebrauch bereit. Den Zirkel in der Mitte kannte ich bereits. Ich war begeistert. Es war von nun an kein Papier mehr vor mir sicher. Auf fast jeder Zeitungsseite fand sich ein kleines Loch und ein Kreis.

Von dem festen Punkt aus, an dem man die Nadel ansetzt, kann man die Größe des Kreises einstellen. Je weiter man die beiden metallenen Stäbe des Zirkels, genannt Schenkel, auseinanderzieht, umso größer wird der Radius, die Reichweite. Dass es wirklich ein Kreis wird, hängt natürlich davon ab, wie fest die Nadel den Mittelpunkt fixiert.

Mittelpunkt und Reichweite bestimmen auch das menschliche Tun. Wie weit es reicht, ist eine Frage des Talents und des Willens, sich durchzusetzen. Beides können wir kaum beeinflussen, es sind Gegebenheiten, die wir vorfinden und nur in begrenztem Maße verändern können. Aber den Mittelpunkt unseres Lebens können wir selbst bestimmen, den Punkt, von dem aus wir unsere Kreise ziehen.

Nach dem, was unser Mittelpunkt ist, bestimmt sich unser Leben. Ist es die Gesundheit, dann dreht sich alles um die Gesundheit; anderes wird nebensächlich. Das kann im Extremfall so weit gehen, dass man vor lauter Sorge um die Gesundheit krank wird. Ist der Mittelpunkt unseres Lebens das Geld, wird sich alles um Geld drehen. Ist es die Politik, dreht sich alles um die Politik. Ist es die Familie, kreist alles um die Familie. Bin ich mir selbst der Mittepunkt des Lebens, dreht sich alles um mich selbst. Andere Menschen werden schnell zu Instrumenten meiner Selbstverwirklichung. Sicher, einige solche Umdrehungen sind unentbehrlich. Aber als Mittelpunkt des Lebenskreises selbst taugen sie nicht.  Dazu sind sie zu unbeständig. Eine Krise wie die Corona-Krise kann sie aushebeln.  Deshalb möchte ich dem Vorschlag des Mystikers Meister Eckhart folgen. Er lautet vollständig:

„Die ein gutes Leben beginnen wollen, sollen es machen wie einer, der einen Kreis zieht. Hat er den Mittelpunkt des Kreises richtig angesetzt und steht der fest, so wird die Kreislinie gut. Das soll heißen: Der Mensch lerne zuerst, dass sein Herz festbleibe in Gott, so wird er auch beständig werden in all seinen Werken.“

 

Es gilt das gesprochene Wort.