"Hier stehe ich..."

Martin Luther-Statue vor der Frauenkirche in Dresden

Gemeinfrei via pixabay/ Sharonang

"Hier stehe ich..."
Über Haltung und Halt
18.04.2021 - 07:05
17.04.2021
Angelika Obert
Über die Sendung:

Der "Feiertag" im DLF zum Nachhören und Nachlesen.

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Das Wort Haltung hat in letzter Zeit einen guten Klang bekommen. Politiker sollen und wollen sie zeigen. Lehrerinnen, Polizisten und Menschen auf der Straße. Eigentlich alle. Auch immer mehr Unternehmen interessieren sich dafür. Eine Haltung verleiht ihnen einen tieferen Sinn und vielleicht sogar einen höheren Wert.

Haltung scheint also etwas Wertvolles zu sein. Dafür sprechen auch die vielen Begriffe, die mit ihr zu tun haben und die ebenfalls sehr bedeutsam klingen: Menschen mit Haltung sind ihren Prinzipien treu, sie sind standfest, charakterfest und verlässlich. Sie folgen ihrem Gewissen, ihren inneren Werten; der Philosoph Platon hat sie als Tugenden bezeichnet. Mit der Haltung verbinden sich Wagemut, Zivilcourage und Tapferkeit. Seine Glaubenshaltung zeigt man mit einem Bekenntnis.

Wie dramatisch das im Extremfall ausgehen kann, hat einer gezeigt. Heute vor 500 Jahren: Martin Luther. In Worms steht er Auge in Auge dem Kaiser gegenüber. Ein ungleiches Paar. Auf der einen Seite thront Karl V., Herrscher eines Weltreiches, so groß, dass darin die Sonne nie untergeht. Ihm gegenüber steht nur ein unbedeutender Mönch aus der deutschen Provinz, Professor einer Universität, die erst wenige Jahre vorher gegründet worden ist.

Der Kaiser hat die Macht, Martin Luther zum Tod zu verurteilen. Und jeder im Raum weiß: Er wird es auch tun, wenn der seine Kirchenkritik nicht auf der Stelle widerruft. Aber Luther lässt sich nicht kleinmachen. Er steht zu seiner Überzeugung, er widerruft nicht. Man kann sich gut vorstellen, wie er da steht: Aufrecht, breitbeinig, die Füße fest auf dem Boden, den Kopf erhoben, die Stimme klingt fest, die Hand liegt fest auf dem Herzen. In dieser Haltung wird Luther schon damals zur Ikone des Wagemuts. Und er ist es geblieben. Ereignisse wie dieses prägen bis heute, was unter Haltung landläufig verstanden wird: Eine starke Geste, ein mutiges Bekenntnis, die Bereitschaft für seine Überzeugungen einzustehen, auch wenn das Nachteile und Risiken mit sich bringt.

Das Bild vom aufrechten Luther vor dem Kaiser zeigt schon: Haltung – das sind nicht nur innere Werte, sondern das hat auch etwas mit dem Körper zu tun. Dort hat die Haltung sogar einen festen Ort: das Rückgrat. Über jemanden, der keine Haltung hat, sagt man: Der hat kein Rückgrat.

Ein gerades Rückgrat als Symbol für Haltung – da denkt man schnell an das Strammstehen beim Militär. Im geistigen Ohr erklingt vielleicht das Kommando „Haltung annehmen“. Aber das wird bei der Bundeswehr gar nicht gesagt. Da heißt das Strammstehen „Grundstellung einnehmen“. Von Haltung ist bei der Bundeswehr dennoch die Rede: Wenn es um die innere Einstellung geht - um das Denken und Fühlen als Soldat oder Soldatin in einer Demokratie.

Beides gehört zusammen: die äußere und die innere Haltung, Körper und Charakter. Die Haltung hat allerdings einen Nachteil. Sie ist bei der Partnerwahl nicht gerade wählerisch. Sie geht auch merkwürdige Verbindungen ein.

Ist Haltung nur etwas für geradlinige Helden? Nicht ganz. Dafür geht sie allzu merkwürdige Wortpaare ein. Im Sport kennt man die Haltungsnote und wenn man müde ist, geht man in die Schonhaltung. Orthopäden erkennen die Fehlhaltung eines Körpers. Und das klangvolle Wort Haltung verirrt sich noch weiter: Es ist auch Teil der Buchhaltung, es gehört zur Viehhaltung und bei Gebäuden zur Instandhaltung. Spätestens jetzt zeigt sich: Haltung ist eigentlich ein Allerweltswort. Es ist nur eine Substantivierung des Verbs Halten. Halten kann man alles Mögliche. Hauptsache es ist haltbar.

Vielleicht erklärt das, warum das Wort Haltung aktuell so bedeutsam klingt: Weil vieles nicht mehr haltbar ist. Wohin man auch schaut, Veränderung überall. Das verunsichert viele. Sie sehnen sich nach etwas haltbaren, nach Halt und eben nach einer echten Haltung. Sie verspricht scheinbar die ersehnte Verlässlichkeit.

Aber eben nur scheinbar, denn Haltung ist für sich genommen nur ein Gefäß und hat noch keinen Inhalt. Die entscheidende Frage ist: Haltung wofür und wozu? Darauf kommt es an. Zum Beispiel die Corona-Pandemie zu leugnen ist eine Haltung. Auch Antisemitismus ist eine Haltung. Oder ganz auf den eigenen materiellen Vorteil bedacht zu sein. Allerdings sind das keine guten Haltungen, finde ich, eher sogar Fehlhaltungen. Am Ende erkennt man: Es gibt unendlich viele Haltungen. Selbst keine Haltung zu haben ist eine. Insofern hat man immer eine. Es kommt also darauf an, welche Haltung man einnimmt – oder von welcher man sich einnehmen lässt.

Wie entstehen Haltungen überhaupt? Ganz einfach: Durch Erfahrungen. Ich erlebe etwas. Ich empfinde dabei etwas. Ich denke darüber nach. Vielleicht schlägt dabei etwas in mir Alarm, das Gewissen. Dann stoße ich auf meine Werte. Sie stammen von den Eltern, von Freunden und aus der Gesellschaft. Besonders wichtig sind dafür persönliche Vorbilder, sie leben eine Haltung überzeugend vor. Aus all dem erarbeitet man sich seine eigene Haltung. Dafür muss man nicht unbedingt an Gott glauben. Aber es hilft, denn daraus ergibt sich ein Kompass für das Leben. Auch die, die nicht an Gott glauben, stoßen beim Stichwort Haltung auf Fragen von religiöser Tiefe: Was ist wirklich wichtig im Leben? Was bedeutet mir der Mensch? Was macht mich im Innersten aus? Wofür stehe ich ein?

Das ist bei Jesus deutlich zu sehen. Seine Haltung lässt sich auf einen einfachen Kernsatz bringen: „Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst, denn in ihm begegnest du Gott.“ Mit dieser Haltung geht Jesus ganz behutsam auf Menschen zu. Er isst und trinkt mit ihnen und feiert den Augenblick. Ein andermal übt er harsche Kritik. Ein andermal redet er Menschen gut zu und tröstet sie. Mal heilt er Kranke. Ein andermal lässt er sich auf Debatten über Gott und die Welt ein. Am Ende lässt er sich widerstandslos gefangen nehmen und ans Kreuz nageln. Auch dazu treibt ihn seine Haltung: die Nächstenliebe, man kann dazu auch Menschenfreundlichkeit sagen. Haltung tritt also nicht immer laut und markig auf. Man kann sie auch leise zeigen. Wer mit seinen Mitmenschen aufmerksam und rücksichtsvoll umgeht, zeigt ebenfalls eine starke Haltung. Eine Haltung, die in einem tieferen Sinne Liebe ist, umfasst alle Tonlagen und viele verschiedene Gemütszustände. Das war auch bei Martin Luther so. Weil er die Liebe Gottes zu den Menschen entdeckt hatte, zeigte er in Worms gegenüber dem Kaiser klare Kante.

 

Eigentlich war Luther gar nicht darauf eingestellt, aus seiner Haltung ein großes Drama zu machen. Im Gegenteil: Er war ein Mensch voller Selbstzweifel. Doch dann machte er diese wundervolle Entdeckung: „Vor Gott muss ich gar keine Angst haben. Ich muss für seine Gnade kein perfekter Mensch sein, ich muss auch keine Vorleistungen erbringen, schon gar kein Geld zahlen. Nur eines ist nötig: mich Gott fest anvertrauen. Daraus ergibt sich alles Weitere.“ Die Grundhaltung Gottes zu den Menschen ist die Liebe. Diese Erkenntnis empfand Luther als so unglaublich befreiend, dass er darüber nicht schweigen konnte. Denn die Kirche seiner Zeit verkündigte den Glauben anders. Sie drohte mit Gott, mit seinem Zorn, mit seinen Strafen – zugleich zog sie aus der Angst der Menschen ihren Gewinn. Die damalige Kirche war in weiten Teilen zu einer Macht- und Geldmaschine geworden und sie war eng mit der weltlichen Macht verschränkt. Das kritisierte Luther aus der Überzeugung seines Glaubens heraus. Leicht fiel ihm das nicht, denn die Kirche war seine Heimat. Außerdem setzte er damit sein gesichertes Leben als geachteter Professor in Wittenberg aufs Spiel. Aber er fand, dass er es Gott schuldig war - und auch den Menschen, die sich nach Trost sehnten und nach der Liebe Gottes. Für sie wurde Luther laut.

Seine Kritik stellte das Geschäftsmodell der Kirche und ihren ganzen Machtapparat in Frage. Aber das war ihm vermutlich zunächst gar nicht bewusst. Er war kein Politiker und kein Ökonom, sondern ein einfacher Mönch - und ein scharfsinniger Denker.

Als solcher reist Luther im April 1521 nach Worms. Dort findet gerade ein Reichstag statt - also das Spitzentreffen der deutschen Fürsten. Es ist der erste Reichstag des neuen Kaisers. Karl V. ist gerade mal 21 Jahre alt und erst vor wenigen Wochen gekrönt worden.

In Worms haben sich deshalb alle versammelt, die in deutschen Landen Rang und Namen haben. Gespannt verfolgen sie, wie sich der neue Kaiser anstellt. Luther fährt also in die Höhle des Löwen. Aus seiner Sicht um zu diskutieren. Aus Sicht des Kaisers um zu widerrufen. Luther reist auf einem Pferdewagen gen Worms, ein Freund und eine Eskorte begleiten ihn. Die Reise gerät zu einem Triumphzug. Viele Leute feiern ihn als Volkshelden, als Freiheitskämpfer. Auch sein Einzug in Worms ist triumphal. Viele Menschen säumen die Straßen, die meisten sind begeistert. Manche mögen auch um den Zerfall der Ordnung gefürchtet haben.

Einen Tag später, am 17. April 1521 tritt Luther zum ersten Mal vor den Kaiser und die Fürsten. Doch die erhoffte Gelegenheit zum Diskutieren bekommt er nicht. Stattdessen erlebt er eine Drohkulisse: Er soll nur reden, wenn er gefragt wird. Und er soll nur mit Ja oder Nein antworten. Die eisige Atmosphäre der lauernden Macht verschlägt ihm die Sprache. Ihm, dem wortgewaltigen Professor, fehlen auf einmal die Worte. Von Haltung keine Spur. Er ist gerade mal fähig um Bedenkzeit zu bitten. Die bekommt er. Dann bricht die Nacht herein. Luther verbringt sie mit zwei anderen Personen in einem Zimmer, denn die Stadt Worms ist vollkommen überfüllt. 7000 Einwohner hat die Stadt. Weitere 14.000 sind wegen des Reichstags zusätzlich da. Betten, Lebensmittel und Heizmaterial sind knapp und teuer. Vermutlich hat Luther kaum ein Auge zugetan. Doch in dieser Nacht muss mit ihm etwas geschehen sein. Denn am nächsten Tag, das war genau heute vor 500 Jahren, tritt ein völlig verwandelter Luther vor den Kaiser. Eine tragfähige Haltung fällt eben nicht vom Himmel, sondern will erarbeitet sein.

 

Luther begegnet dem Kaiser und den Fürsten erneut. Dabei zeigt er sich selbstkritisch. Das unterscheidet wohl eine ordentliche Haltung von bloßer Sturheit. Er sagt: „Ich werde widerrufen, wenn ich anhand von zwei Kriterien widerlegt werde: Erstens die Vernunft. Also: Wohin weisen die Fakten und die Argumente? Zweitens die Heilige Schrift. Also: Was höre ich darüber von Gott?“ Das sind gute Kriterien. Sie schmecken nach Aufklärung, nach Dialog und Debatte. Darin zeigt Luther seine eigentliche Haltung: Er sucht den Austausch, will gemeinsam nach der Wahrheit über Gott und den Glauben suchen. Doch der Kaiser teilt diese Haltung nicht. Er will den lästigen Mönch einfach nur zum Schweigen bringen. So oder so. Erst als Luther das begreift, stellt er sich quer und sagt NEIN. Seine Standhaftigkeit macht die Reformation unumkehrbar. Zugleich wird sein Auftritt auf dem Wormser Reichstag zu einer Ur-Geschichte der persönlichen Gewissensfreiheit.

Heutzutage ist das ein gewichtiges Wort. Was damit gemeint ist, hätte Luther damals allerdings wohl kaum verstanden. Denn sein Gewissen war nicht frei im heutigen Sinne. Es war fest an seinen Glauben gebunden - dadurch war Luther frei von Angst und fähig zu seiner mutigen Haltung. Das steckt in dem Satz, der wohl sein berühmtester ist: „Hier stehe ich; ich kann nicht anders; Gott helfe mir. Amen“. Ein genial prägnanter Satz! Im Manuskript seiner Rede ist er allerdings nicht zu finden. Sein Sprechzettel ist erhalten, er befindet sich in Weimar. Entweder er hat diesen Satz spontan ergänzt – schließlich musste er vor dem Kaiser frei reden - oder die Drucker haben den Satz später hinzugefügt, als sie seine Rede vervielfältigten. So oder so: Der Satz beschreibt Luthers Haltung treffend. Und er ist zum Inbegriff von Haltung geworden: Der einzelne gegen das System der Macht, Mut zum persönlichen Einstehen für etwas.

In dieser Tradition stehen viele. Zu ihnen zählen Dietrich Bonhoeffer, der gegen Hitler Widerstand leistete, auch Edward Snowden, der brisante Daten aus den USA enthüllte. Aktuell zählen auch viele dazu, die in Weißrussland, Hongkong und an vielen anderen Orten für Demokratie kämpfen. Sie alle und Luther selbst geben dem Begriff Haltung etwas Widerständisches, ja Heldenhaftes. Davon ist es bis heute geprägt. Das ist gut so. Denn auch heute werden weltweit mutige Menschen gebraucht, die Haltung zeigen gegen Hass und Gewalt, gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung, für die Erhaltung der Schöpfung und für die Freiheit.

Wer seine eigene Haltung sucht, kann sich bei Luther einiges abgucken. Zunächst einmal die Erkenntnis: „Ich kann etwas bewirken, auch auf mich kommt es an!“ Der erste Schritt ist dann, sich selbst kritisch zu prüfen: „Stimmt überhaupt, was ich beobachte und denke?“ Dabei helfen die zwei Kriterien Luthers, die auch heute noch taugen: Erstens die Vernunft: Wohin weisen die Fakten und die Argumente? Zweitens die Heilige Schrift: Was höre ich darüber von Gott? Daraus ergibt sich ein innerer Kompass, das Gewissen. Wenn dieser Kompass klar in eine Richtung weist, dann ist es Zeit, etwas zu tun. Dann ist der Moment der Bewährung gekommen. Haltung zeigen kann einem viel abverlangen und zugleich viel Kraft geben. Beides hat Luther in Worms erlebt. Als er den Saal der Macht verlässt, fällt die Last von ihm ab. Erleichtert ruft er: „Ich bin hindurch!“ Allerdings nur für den Augenblick. Die Zeit der Bewährung fängt für ihn und die Reformation jetzt erst so richtig an. Haltung hat man eben immer. Aber auch Gott ist immer da mit Liebe, Hilfe und Halt.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:
 

  • Felix Mendelssohn-Bartholdy (RIAS 1953), Ausschnitte aus der Sinfonie Nr. 5 op. 107 „Reformations-Sinfonie“

 

17.04.2021
Angelika Obert