Wort zum Tage
Gemeinfrei via unsplash/ Ahmad Odeh
Exploring Borders – Grenzen erkunden
von Pfarrerin Julia Rittner-Kopp
22.01.2024 05:20
Feedback zur Sendung? Hier geht's zur Umfrage! 
Sendung zum Nachlesen

 

Ich liebe Ballett. Allerdings nur zum Zuschauen. Und ohne Tutu und Spitzentanz. Als Kind bin ich selber einige Jahre zum Ballettunterricht gegangen. Die Hand an der Stange, aufrechte Haltung und dann erste Position, zweite Position, Petit Plié, Grand Plié… - ich hab das alles brav mitgemacht. Allerdings ohne Leidenschaft und leider ohne Talent. Es war eher wie Vokabellernen. Ich habe es nicht gefühlt.

Wenn ich heute tanze, frei, für mich oder auf einem Fest, ist das vollkommen anders. Dann betanze ich Trauer, Verzweiflung und Wut und Glück und Freude auch. Große Gefühle. Raus damit. Und wenn ich im Theater anderen auf der Bühne beim Tanzen zuschaue, sehe und spüre ich Lieben, verzweifeltes Kämpfen, Fallen und Aufgefangen-Werden, zartes Schweben… Ich tanze mit, obwohl ich nicht (mit)tanze. Die Grenzen fließen, verschwinden fast.

In Nürnberg hat eine Gruppe von Tänzerinnen und Tänzern ein Projekt angestoßen, das Grenzen auf ganz besondere Weise betanzt… Exploring Borders - Grenzen erkunden, heißt ihr Stück. Auf der Bühne bewegt sich ein großartiger Tänzer - mit Krücken, mit Rollstuhl. Ohne kann er nicht tanzen. Trotzdem sagt er, sie sind Requisite, Teil meiner Kunst.

Das inklusives Tanzprojekt heißt: EveryBody. Im zweifachen Sinn. Also everybody - für jeden und jede. Und für jeden Körper, every body. Das einzige, was zählt, ist: Da sein. Mit dem Körper, in dem du lebst. Einen anderen hast du nämlich nicht.

In der Choreografie ist von allem was dabei, was zum Nachdenken und zum Lachen, geniale Dialoge, irre Akrobatik, starke dance moves. Ich bewundere diese unglaublich begabten Tänzerinnen und Tänzer. Mit oder ohne Handicap? Man weiß es gar nicht so genau… Die Grenzen fließen. Die Schwerkraft ist scheinbar aufgehoben. Nichts behindert. Alle bewegen sich lustvoll, kunstvoll und grenzüberschreitend, im besten Sinne des Wortes. Mixed-abled artists, nennt die Leiterin Susanna Curtis ihre Tänzerinnen und Tänzer, so was wie „gemischt fähige Künstlerinnen und Künstler“. Jeder und jede mit besonderen Qualitäten.

Ich merke, da fallen noch mehr Grenzen. Solches Tanzen weitet meine Sinne, meine Seele. Als würde der Himmel zum Tanz auffordern. So lese ich in den jahrhundertealten Visionen der Mystikerin Mechthild von Magdeburg: Ich tanze, wenn du mich führst. (1)

Mein Leben mit Gott tanzen, mich an meine Grenzen wagen und die großen Gefühle zulassen. Weil du mich führst, Gott.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Literatur zur Sendung:

  1. Margot Schmidt: Hinführung zu den Texten, in: Mechthild von Magdeburg: "Ich tanze, wenn du mich führst." Ein Höhepunkt deutscher Mystik, Freiburg u.a. 2001, S. 16.