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Außenstehende denken wahrscheinlich, dass wir Unmögliches wollen. Wir religiöse Menschen versuchen ständig, den vermutlich größten denkbaren Abstand zu überbrücken: den zwischen Mensch und Gott. Und im Christentum setzen wir dem Ganzen noch die Krone auf, wenn wir sagen: In Jesus Christus wird Gott Mensch.
„Das soll mal einer begreifen“, sagt neulich eine Bekannte. Mir geht ihr Satz lange nicht aus dem Kopf. Denn ja, vermutlich kommen wir nur so weiter: durch „Begreifen“. Damit meine ich nicht, dass wir Christen uns noch mehr intellektuell verbiegen sollen in dogmatischen Spitzfindigkeiten. Ich meine Begreifen im wahrsten Sinne des Wortes: Also mich annähern, berühren, in die Hand nehmen. Glaube muss begreifbar sein. Sonst ist es nur Hirngymnastik.
Wenn man Babys beobachtet, wird deutlich, was Begreifen ist. Um in Kontakt mit ihrer Umwelt zu kommen, nehmen Babys alles erstmal in den Mund. Sie erschmecken und erfühlen sich ihre Welt. Auch später hat Lernen eine körperliche Dimension. Nicht ohne Grund sprechen wir vom „Erfassen“ einer Erkenntnis oder einer Lebenslektion.
Auch im Kontakt mit anderen Menschen kommt das zum Tragen. Um zu realisieren, dass wir nicht allein auf dieser Welt sind, brauchen wir Körperkontakt. Wie wichtig das ist, haben wir in der Corona-Zeit gemerkt. Beziehungen werden gestaltlos, wenn wir uns nur noch online begegnen. Digitale Kommunikation braucht eine Ergänzung auf leiblicher Ebene, damit sie nicht verflacht.
In der Bibel haben Menschen immer wieder den Wunsch, Gott zu sehen und zu begreifen. Sie wollen nicht nur vom Hörensagen kennen. Sie fordern ein handfestes Zeichen dafür, dass Gott da ist. Das ist ein Spannungsfeld: Gott soll sich zeigen – begreifbar, in der Materie. Denn ein unverkörperter Gott wäre nur heiße Luft. Andererseits ist Gott Gott – dem einfachen Zugriff entrückt. Das Heilige umgibt immer eine Sphäre der Unantastbarkeit.
In der Bibel macht Mose diese Erfahrung zwischen der fast greifbaren Nähe Gottes und dem unfassbaren Abstand. Er ist mit seiner Schafherde in den Bergen unterwegs. Da kommt er an einen Dornbusch, der brennt, aber nicht verbrennt. Als er näher herangeht, hört Mose die Stimme Gottes, die seinen Namen ruft. Im gleichen Zug sagt die Stimme: „Komm nicht näher! Zieh deine Schuhe aus; denn der Ort, auf dem du stehst, ist heiliger Boden.“ (2. Mose 3)
Nähe und Distanz in einem. Gott begegnen ist etwas anderes, als in den Supermarkt gehen. Sonst wird es banal. Und trotzdem muss Gott auch im Supermarkt kontaktierbar sein. Sonst wäre er nicht Gott.
Ich baue darauf, dass Gott auch ins Banale kommen mag. Dass ich Gottes Gegenwart auch im Discounter, in der U-Bahn oder in meinem Wäschekeller begreifen kann. Die sind nämlich nicht per se heilig oder unheilig. Sie können zu einem Ort des Gotteskontaktes werden. Schließlich war Mose auch mit seinem gewöhnlichen Alltag beschäftigt – dem Schafe-Hüten -, als er Gott begegnet ist.
Für mich ist einmal der Bahnhof in Hannover zum heiligen Boden geworden. Zusammen mit Freunden bin ich dort völlig übermüdet in einen falschen Zug gestiegen. Wir mussten warten, mehrere Stunden. Es hätte nervig sein können: Wir saßen auf dem staubigen Boden von Gleis Nummer 8, jede Menge Tauben um uns. Aber es war erstaunlicherweise anders.
Wir haben die Situation genommen, wie sie ist. Wir haben entdeckt, wie schön die Welt ist, wenn man hinschaut. Das Gefieder der Tauben ist nicht einfach grau. Es hat Farbschattierungen – lila, braun und, wenn das Licht darauf fällt, sogar rosé. Wir haben uns gegenseitig auf die Details um uns herum aufmerksam gemacht und gestaunt.
Irgendwann kam dann der Zug. „Lasst uns jetzt nicht alle allein nach Hause fahren“, hab ich gesagt. Und meine Freunde haben tatsächlich ihre Reiseroute geändert und sind mitgekommen für ein paar Tage in meine Studentenbude.
„Gott wohnt auf Gleis 8“, habe ich in den Jahren danach manchmal auf dem Bahnhof in Hannover gesagt. Klar, er wohnt auch woanders. Aber ich brauche ab und zu einen Ort, wo ich Gott dingfest machen kann. Einen Ort, an dem ich begriffen habe: Die Welt hält so viel zum Staunen bereit.
Es gilt das gesprochene Wort.