Morgenandacht
Wenn ein Opfer dem Täter vergibt
21.03.2016 05:35

Gill Hicks aus London ist eine tapfere Frau. Sie hat sich schick gemacht, einen tiefroten Lippenstift genommen und dick Rouge auf die Wangen aufgetragen. Sie humpelt. An beiden Knien sind Prothesen befestigt. Ihre Unterbeine hat Gill vor knapp 12 Jahren bei den Terroranschlägen auf die Londoner U-Bahn verloren. Sie hatte sich am Morgen des 7. Juli 2005 auf dem Weg zur Arbeit in einen überfüllten Zug der Piccadilly Line gequetscht. Ihr Waggon wurde im Tunnel zwischen King‘s Cross und Russell Square von einer Bombe in Stücke gerissen. Damals sind dort 28 Menschen getötet worden, viele wurden verletzt. „Wissen Sie“, sagt Gill Hicks, „ich habe nach meiner Rettung so viel Liebe erfahren; ich habe keinen Grund zur Wut“. Mehr noch: es sei ihr leicht gefallen, sagt sie, zu verzeihen.[1]

 

Die Journalistin Marina Cantacuzino kennt Dutzende Geschichten wie jene von Gill Hicks. Jahrelang hat sie Opfer von Verbrechen und Gewalt interviewt. Sie war es leid, die Opfer immer wieder nach blutigen Details zu fragen und sie mit ihren Fragen wieder in deren persönliche Hölle zu führen. Stattdessen fragte sie die Opfer, wie sie mit ihrem Schicksal fertig wurden.

Auf der ganzen Welt hat sie Menschen gefunden, die ihr diese Frage beantwortet haben. Menschen aus Südafrika, die während der Apartheid Opfer staatlicher Willkür wurden. Geiseln tschetschenischer Rebellen; Opfer und Angehörige der Hutus und Tutsi in Ruanda. Menschen, die in Chile und Argentinien verschleppt wurden. Palästinensische und israelische Eltern, die ihre Söhne und Töchter in der Intifada verloren haben. Eine Massai-Frau, die von einem Mitglied der britischen Armee vergewaltigt worden ist. Sie und viele andere Opfer von Gewalt und Terror lässt die Journalistin Marina Cantacuzino in einer Ausstellung zu Wort kommen. Sie trägt den Titel „The F-Word“. „F“ steht für Forgiveness, zu Deutsch: Vergebung.

Gill Hicks, Opfer des Terroranschlags auf die Londoner U-Bahn, erzählt vom Ende des Teufelskreises: „Der Kreis muss gestoppt werden. Ich kann nicht die Person hassen, die mir das angetan hat. Der Kreis muss mit mir enden.“ Gill Hicks ist eine Ausnahme. Weil den meisten Opfern das Vergeben eben nicht leicht fällt. „Verzeihen ist eine Reise, kein Ziel“, sagt Marina Cantacuzino. Wenn ein Opfer von Gewalt Verzeihen als heilsame Befreiung erlebt, dann entsteht das aus eigener Bereitschaft. Und es ist eine ganz persönliche Erfahrung.

 

Niemand muss so wie Jesus für die Täter bitten, die ihn verurteilen und ans Kreuz nageln: Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun (Lk. 23,34). Es gibt keine christliche Pflicht, dass ein Opfer dem Täter zu vergeben hat. Und niemand darf sich dazu gezwungen fühlen. Es gibt in der Ausstellung auch Geschichten von Menschen, die nicht verzeihen.

Doch wie geht das: vergeben? Der südafrikanische Erzbischof Desmond Tutu schreibt der Ausstellungsmacherin Marina Cantacuzino in einem Brief:

„Vergebung bedeutet nicht, zu verzeihen, was geschehen ist. Es bedeutet das, was passiert ist, ernst zu nehmen und nicht klein zu machen. Es bedeutet den Stachel in unserer Erinnerung herauszuziehen, der unsere ganze Existenz zu vergiften droht.“

Marina Cantacuzino sagt, dass sie von den Geschichten vom Verzeihen mehr bewegt war als von den Geschichten der Rache. Es ist der Wechsel der Perspektive, der sie anspricht. Wie es Menschen gelingt, aus Bösem etwas Gutes wachsen zu lassen.

 

Link auf FB und im WWW: www.theforgivenessproject.com

 

[1] aus: „Wie auch wir vergeben. Schmerz, Wut, Heilung: Eine Engländerin sammelt Geschichten vom Verzeihen“ FAS 16.3.08 Lena Popp