Morgenandacht
Der Mantel
27.08.2016 06:35

Seinen Mantel hat der heilige Martin mit einem Schwert geteilt. Eine Hälfte davon gab er entschlossen einem Frierenden. Mir ist neulich ein ganzer Mantel geschenkt worden. Ein paar Tage nachdem ein Nachbar, Herr Schmidt, gestorben war. „Ich habe noch einen gut erhaltenen Mantel von meinem Mann“, sagt Frau Schmidt zu mir. „Der ist mir viel zu schade zum Wegtun. Er würde Ihnen passen, Sie sind doch groß.“ Sie bittet mich, den Mantel unbedingt einmal anzusehen. Der Abschied von ihrem Mann war nicht leicht für Frau Schmidt. Überraschend tröstlich aber die große Antteilnahme: „Sagenhaft, wer da alles an meinen Mann und mich gedacht hat.“ Sie lächelt still darüber. Leute, mit denen sie über Jahre keinen Kontakt hatte, haben sich gemeldet. „Er muss ja wirklich beliebt gewesen sein.“ Sie sagt es, als wollte sie sich das Lächeln des Mannes an ihrer Seite vor Augen rufen.

 

Nun ist die letzte Danksagung abgeschickt worden. Alle Aufgaben rund um den Abschied sind erledigt. Ein Loch tut sich mit einem Mal auf. „Er fehlt mir halt schon jetzt,“ sagt Frau Schmidt und zuckt mit den Achseln. Als wollte sie sagen: Ich weiß, es ist ja nicht zu ändern. Trotzdem wäre es schön gewesen, wenn mein Mann noch hätte leben dürfen.

 

Die Schmidts haben über 50 Jahre Seite an Seite gelebt. „Wenn wir uns mal gestritten haben,“ so erzählt sie mit einem Augenzwinkern, haben wir uns noch vor der Tagesschau versöhnt.“ Im letzten Jahr war Frau Schmidt es, die deutlich mehr Hilfe brauchte. Ihre Beine versagten immer öfter den Dienst. Auch die Luftnot machte ihr zu schaffen. Herr Schmidt war fitter als sie und sorgte dafür, dass im Haushalt alles lief. Oft traf ich ihn auf dem Fahrrad, wenn er zum Einkaufen fuhr. Oder er winkte am Steuer seine Autos freundlich herüber, wenn er mit seiner Frau zum Arzt fuhr. Nun steht das Auto verlassen in der Garage. „Wissen Sie nicht jemanden, der so ein altes Auto sucht?“ fragt mich Frau Schmidt und seufzt. „Es ist schwer, wenn man nicht weiß: Wem wird das mal alles gehören? Die Wohnung, die Sachen von meinem Mann, der schöne Mantel.“ Seltsam, aber dass der Mantel in gute Hände kommt, scheint eine ihrer größten Sorgen zu sein.

 

Kinder sind den Schmidts nicht geschenkt worden. Wenn das Paar darüber traurig gewesen sein sollte, so haben sie es nicht nach außen gezeigt. Frau Schmidt blättert in einem Fotoalbum. „Mein Mann und ich haben immer so abenteuerliche Reisen gemacht. In den fernen Osten. Unser Leben war schön.“ Sie wirkt ein wenig unsicher, wie es nun weitergehen soll. „Wie ist das eigentlich mit der Witwenrente“, fragt sie ein wenig ratlos. Ich erkläre, dass sie deswegen Post bekommen wird. Sind solche Ratschläge wirklich das, was sie jetzt tröstet?

 

Frau Schmidt holt den blauen Lodenmantel aus dem Ankleidezimmer und drückt ihn mir sanft in die Hand. „Ich fände es schön, wenn Sie ihn tragen würden. Größe 54. Ich denke, das kommt hin.“ Ich zögere. Denn ich weiß nicht, ob ich das will. Das Kleidungsstück eines Verstorbenen auftragen. Fremd fühlt sich das an. Doch dann verstehe ich. Frau Schmidt gibt mir etwas Kostbares zu treuen Händen. Etwas aus dem Leben ihres Mannes. Zu kostbar, dass es irgendwo in den Altkleidern landen sollte. Das Leben ihres verstorbenen Mannes ist unendlich wertvoll – und für Frau Schmidt wird der Mantel zum Symbol dafür. Man kann so etwas nicht einfach weggeben. Es muss behütet und gepflegt werden. Frau Schmidt streichelt den Mantel, als würde sie die Wange ihres Mannes zärtlich berühren. Ich schaue das gute Stück an und bedanke mich. Ich verspreche Frau Schmidt, dass ich den Mantel sorgsam behandeln werde. Sie bedankt sich bei mir, als sei sie es, die beschenkt wird.

 

In einem irischen Segensspruch heißt es: „Gott sei um dich wie ein Mantel, der dich umhüllt und wärmt.“ Von Frau Schmidt habe ich gelernt: Wer einen Menschen verloren hat, der muss umhüllt werden mit einen Mantel der Liebe. Trauernde brauchen eine schützende Haut, damit kein falsches Wort sie verletzt und eine unbedachte Geste sie kränkt. Einen großen Mantel voller Liebe und Wärme.