Endlich! Der See kommt in Sicht. Vor meinen Augen räkelt sich das galiläische Meer gemächlich in der Landschaft. Keine Wellenkämme, keine Schaumkronen, statt sich als Bühne für Sensationen zu präsentieren, macht die ganze Gegend einen unspektakulären, um nicht zu sagen langweiligen Eindruck. Und hier sollen Stürme vom Himmel gefallen, hier sollen Boote gekentert sein? Hier sollen Gottessöhne über das Wasser gewandelt und Menschenkinder von allen möglichen Plagegeistern befreit worden sein?
Knapp zehn Tage habe ich gebraucht, um aus meiner syrischen Heimat bis an diesen Strand zu wandern, am sagenumwogenen See Genezareth. In meinem Gepäck steckt ein konkreter Auftrag meiner Gemeinde. Durch Befragung der Einheimischen hier soll ich die Geheimnisse um dieses Binnenmeer entschlüsseln. Doch bevor ich mich um die heikle Mission kümmere, lasse ich mich von meinen müden Füßen ins Wasser locken. Klar, kühl und erfrischend ist er, der See Genezareth. Mehr aber auch nicht. Spekulationen über eine spezielle Zusammensetzung seines Wassers, wie manche zu Hause glauben, scheinen mir völlig überzogen. Wenn wirklich ein Mensch je über diesen See spaziert ist, dann liegt das nicht an einer besonderen Mischung seiner Mineralien, sondern an der besonderen Begabung dieses besonderen Menschen.
So, So, eine Forschungsreise. Und wofür genau interessiert man sich im fernen Syrien?
Der Mann wohnt in Kapernaum. Eigentlich ist er Fischer. Doch gelegentlich bietet er sich den Pilgern am Ort als Fremdenführer an. Das Dorf am Westufer des Sees ist zu einem der bekanntesten Flecken von Galiläa avanciert, und zwar wegen seines berühmtesten Einwohners.
Hier wohnte Jesus von Nazareth, da hat er die Synagoge besucht, dort machte er sich Feinde, vergab Sünden…
…und vollbrachte lauter Wundertaten, die ihn in den Augen meiner syrischen Christen zum Messias machen. Meine Aufgabe ist es, vor dieser historischen Kulisse nach Augenzeugen der spektakulären Machterweise Jesu zu forschen; Gelähmte, die er wieder auf die Beine gestellt hat, ehemalige Blinde, die ihm sein Augenlicht verdanken, oder vielleicht Wirrköpfe, deren schräge Gedanken durch ein Zauberwort des Christus in gerade Bahnen gelenkt wurden. Exemplarische Glückskinder des Lebens: Die suche ich. Aber leider kann der Fremdenführer mir nicht viel weiterhelfen.
Das ist doch alles mindestens 40 Jahre her! Ich kann dir höchstens Kinder und Enkel von Leuten zeigen, die der Mann aus Nazareth damals geheilt hat. Oder die Hütte des Petrus?
Das Haus des ersten Jüngers Jesu ist wie eine Art Museum eingerichtet. Hier ein löchriges Fischernetz, dort eine schmutzstarre Decke. In kleinen Gruppen führen Ortskundige Pilgerscharen an den Ausstellungsstücken vorbei. Der einstige Lebensmittelpunkt dieses berühmten Mannes steht bei allen Fremden hoch im Kurs, erst recht bei meinen Syrern. Hat sich zwischen den Lehmwänden dieser Baracke nicht auch die erste Heilung Jesu abgespielt?
Richtig! Und zwar an der Schwiegermutter des Petrus, damals, als der Fischer noch Simon hieß. Die arme Frau hat tagelang ihr Krankenbett durchgeschwitzt, bevor Jesus sie ohne große Umstände wieder in die Vertikale zog. Fieberfrei und geheilt. Das Sterben erstmal verschoben.
Rund um Kapernaum müssen doch noch ein paar mehr solcher Glückskinder des Lebens zu finden sein!
Glückskinder? Glaubst du, die Wunder seien für die Ewigkeit gemacht worden? Kaum war der Heiler zum nächsten Kranken gezogen, ging das Elend doch wieder los. Ich hatte einen blinden Onkel. Der gehörte zu den wenigen Beschädigten, an denen der Rabbi aus Nazareth überhaupt Halt machte. Ja, er war so freundlich. Er hielt inne und er machte den Blinden sehend. Und was passiert ein oder zwei Wochen später? Der alte Mann klagt wieder über Fliegenbeine im Blickfeld und stolpert über Türschwellen. Unerbittlich trübte seine Welt sich zum zweiten Mal ein.
Das ist hart. Wäre ich selbst es, der aus der Welt des Lichts in eine Nebelwolke zurückgestoßen wird, würde ich wahrscheinlich als verbitterter Griesgram verkümmern.
Ob du´s glaubst, oder nicht: Der Blinde hat sich nie darüber beklagt, dass sein Ausflug ins Licht so kurz ausgefallen ist. Die hellen Tage reichten, um ihm eine Ahnung von dem Glanz zu geben, den die Glaubenden nach dem Jüngsten Tag erwarten. Und dass eine allzu gleißende, allzu scharf konturierte Sicht allen gesunden Augen wehtut. Auch das wusste er jetzt.
Mancher Bissen, den ich nach dieser Ernüchterung von meinen Gastgebern entgegennehme, bleibt mir fast im Halse stecken. Als Vorspeise servieren diese freundlichen Leute mir nämlich unappetitliche Krankheitsgeschichten; von abgestoßenen Fingern, von Stümpfen und Schmerzen ist die Rede, von übel riechenden Körperflüssigkeiten. Die Zeugen, allesamt Kinder oder Enkel von damals Geheilten, finden nichts dabei, mir die unappetitlichsten Details aufzutischen. Für sie gehört das alles zu ihrem Alltag. Was aber das Schlimmste gewesen sei: Die Schande.
Ganze Familien, ganze Häuser wurden in Sippenhaft genommen. „Auf denen liegt ein Fluch!“ hieß es. „Vorsicht, Ansteckungsgefahr!“ Wer will schon mit den Kindern von Verrückten spielen, die Tag und Nacht kotbeschmiert in Grabhöhlen herumkriechen?
Der Einzige, der sich offensichtlich nicht vor dämonischer Ansteckung fürchtete, war wohl Jesus gewesen, erfahre ich. Unerschrocken legte er den Jammergestalten seine Hand auf ihre ungewaschenen Haare. Keinerlei Ekel, und das als Messias. Keine Berührungsangst.
So war es! Jesus schüchtert die Geister aller Verrückten ein, indem er ihnen ins Gesicht blickt. Ganz einfach. Und behauptet dann auch noch, dass es der Glaube dieser überdrehten Seelen gewesen sei, der ihnen geholfen habe. „Glaube“! Nennt er das.
Im nächsten Moment aber, heißt es, verbietet er allen Geheilten, allen Staunenden, allen, die laut und begeistert Beifall spenden, den Mund.
„Still!“ hat Jesus gesagt. „Die entscheidenden Zeichen kommen erst noch“.
Aber was kann Größeres passieren als ein Wunder? Die Zeit bleibt stehen, die Stunden schrumpfen zu einem Punkt zusammen, der Himmel öffnet sich. Wir Syrer haben die Bewohner Galiläas doch immer um das Privileg beneidet, Gottes Atem hautnah gespürt zu haben, und diesen heilenden Geist immer noch um die Nasen geweht zu bekommen. Was machen wir nachgeborenen Christen falsch, dass bei uns keine Wunder mehr passieren, ja dass bei uns eigentlich noch nie Wunder passiert sind? Vielleicht haben sich Fehler in unsere Techniken des Handauflegens eingeschlichen! Vielleicht benutzen wir die falschen Segensformeln. Wo sonst, wenn nicht hier, an den Originalschauplätzen der Heilungswunder, lässt sich die wirkungsvolle Anwendung der göttlichen Geisteskräfte erlernen? Bislang sind wir nur Scharlatanen und selbsternannten Geistheilern auf den Leim gegangen. Immer noch werden Schwerhörige von Jahr zu Jahr tauber, und Hinkende kommen irgendwann gar nicht mehr vom Fleck. Die Sehnsucht nach Heilung wächst bei uns mit jedem Gottesdienst, in den sich unsere Behinderten schleppen.
Und dann? Als Reparierter, als Gesundete musst du zusehen, wie du mit deinem umgestülpten Leben zurechtkommst! Was willst du arbeiten, wenn du nur das Betteln gelernt hast? Wie kannst du allein leben, nachdem dich bislang deine Familie durchgefüttert hat? Glaub mir: Meistens hören mit einer Heilung die Probleme nicht auf, sondern fangen erst richtig an.
Und dann erzählt der Fremdenführer von dem gelähmten Mann aus Kapernaum, dem Jesus das Laufen beigebracht hat. „Steh auf, nimm dein Bett und geh!“ Jeder syrische Christenmensch kennt diese Geschichte und weiß, wie sie zu Ende geht. Der Gelähmte steht auf. Er klemmt sich sein Bett unter den Arm und verlässt die Szene; mit aufrechtem, zielstrebigem Gang. Was dagegen nirgends erzählt wird, ist die Geschichte nach dieser Geschichte. Staunen, Applaus, und fertig, Sehnsucht gestillt. So enden die Lesungen in unseren Gottesdiensten. Wenn ich ehrlich bin, ich will auch nicht wissen, wie das Leben eines Ex-Gelähmten weitergeht.
Die Freunde, die den Gelähmten zu Jesus gebracht, die sogar eigens ein Dach abgedeckt haben, um ihn zu dem Heiler herunter zu lassen, reagieren beleidigt. Statt ihnen für alle Dienste zu danken, mit denen sie ihm seit Jahren assistiert haben, ist der Bursche auf seinen kräftigen Beinen an ihnen vorbei und nach Hause marschiert. Wie egoistisch! Seine Helfer? Überflüssig geworden, keine Chance mehr zur Mildtätigkeit.
Es kam sogar noch schlimmer, höre ich. Als der Ex-Invalide in der Stadt einen gut laufenden Schusterbetrieb eröffnet, schlagen ihm Neid und Missgunst seiner ehemaligen Gönner entgegen. Die Nachbarn knallen die Fenster zu, wenn er mit muskelbepackten Armen bei ihnen anklopft.
Wie kann das sein? Fragt man sich doch. Hat unser Freund den Gelähmten vielleicht bloß gespielt? Hat er uns zum Narren gehalten, der Schmarotzer? Überhaupt: Warum kann dieser Bursche gehen und all die anderen Gehbehinderten der Stadt müssen sitzen bleiben, wo sie sitzen?
Mein Reiseführer und ich halten Siesta in einem Fischerboot. Nicht nur die Wellen des galiläischen Meers machen mich schwindlig, sondern all die wenig erbaulichen Epiloge zu den Heilungswundern, die er mir erzählt. Über dem See Genezareth verziehen sich die letzten Schleierwolken, und machen einer abendlichen Ernüchterung Platz.
Darüber, was schief geht, erzählt kein Mensch. Weitergegeben werden nur die paar Erfolgsgeschichten, die tatsächlich hier vorgekommen sind. Jetzt glaubt die halbe Welt, unser Galiläa sei der Garten Eden. Als ob der Atem Gottes sich jemals einsperren ließe! Als ob das irgendein Medikament wäre, was man einfach einstecken und mitnehmen könne.
Ich fühle mich ertappt mit meinem Auftrag. Zum Glück scheint mein Freund mir meine heimlichen Hoffnungen nicht übel zu nehmen. Eigentlich sind sie ja auch gar nicht meinem eigenen Kopf entwachsen, sondern passen sich den naiven Erwartungen meiner Auftraggeber in Syrien an. Ich weiß, was sie mich fragen werden. Sie wollen unbedingt wissen, warum unter den Christen von heute keine Heilungen mehr vorkommen, und was sie falsch machen, wenn ihre Gebete auf taube Ohren stoßen. Was soll ich ihnen antworten? Dass es Wichtigeres gibt als heile Knochen? Der Trick der erfolglosen Geistheiler, die überall ihr Unwesen treiben ist mir zuwider. Diese Scharlatane behaupten einfach, ihr Versagen liege am fehlenden Glauben der behinderten Menschen. Sie beten eben nicht inständig genug, sie fasten zur falschen Zeit oder nicht lange genug. Sie lassen sich nicht vertrauensvoll genug auf die Wundermänner und ihre Einhauchungen ein.
Absurd ist aber, den Augenzeugen der Wunder Jesu Glaubensmangel zu attestieren. O doch, sie glauben an den Heiland. Und alle hatten auf Jesus gehofft, dass er sie heil macht. Aber gesund geworden sind nur wenige.
Wenn du mich fragst: Glaube fängt doch erst an, wo die Wunder ausbleiben. Es ist nicht sonderlich schwer, einem Menschen göttliche Kräfte zuzubilligen, wenn der dir gerade den Aussatz von der Haut gestrichen hat, oder wenn er vor deinen Augen über das Wasser spaziert. Wer sonst, wenn nicht Gott selbst, kann ein Wunder zustande bringen? Aber wenn einer die Reste deiner von Lepra zerfressenen Hände einfach nur in seine eigenen nimmt und sie drückt, wenn sein Blick deinen aufgerissenen Augen standhält…
…wenn dieser Mensch dir sagt „Es ist gut!“ – auch wenn der Aussatz weiterfrisst…
…und wenn du dann spürst, wie es dir leichter ums Herz wird, wenn deine Seele jubelt, obwohl du noch nie sprechen konntest, dann, ja dann ist das Glaube.
…und dann weht Gottes Geist auch in unsere Versammlungen. Jeder und jede ist willkommen, Menschen mit und ohne Heilungschancen. Keine Reparaturen, keine Korrekturen.
Keine Bedingungen. In Gottes Augen bist du immer mehr als deine Mängel.
Das Ufer badet jetzt vollkommen im Dunkel. Aber mir ist ein Licht aufgegangen, das lässt mich gut schlafen in meiner letzten Nacht vor dem Heimweg.