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Sendung zum Nachlesen
Märchen erzählen vom Leben und oft auf drastische Weise wie dieses chinesische Märchen:
Es waren einmal zehn Bauern, die gingen miteinander über das Feld. Sie wurden von einem schweren Gewitter überrascht und flüchteten sich in einen halb zerfallenen Tempel. Der Donner kam aber immer näher, und es war ein Getöse, das die Luft ringsum erzitterte. Kreisend fuhr ein Blitz fortwährend um den Tempel herum.
Die Bauern fürchteten sich sehr und dachten, es müsse wohl ein Sünder unter ihnen sein, den der Blitz erschlagen wolle. Um herauszubringen, wer es sei, machten sie aus, ihre Strohhüte vor die Tür zu hängen; wessen Hut weggeweht werde, der solle sich dem Schicksal stellen.
Kaum waren die Hüte draußen, wurde auch einer weggeweht, und mitleidlos stießen die anderen den Unglücklichen vor die Tür. Als er aber den Tempel verlassen hatte, da hörte der Blitz auf zu kreisen und schlug krachend in dem Tempel ein.
Ja, offenbar ist nichts schlimmer, als wenn sich kein Schuldiger findet: Wenn die Jugend nicht mehr pariert, sind die Lehrer schuld. Wenn der Patient nicht gesund wird, ist der Arzt schuld. Wenn mein Fußballverein verliert, liegt’s am Schiedsrichter – oder am Trainer. Wenn unbequeme Wahrheiten ausgesprochen werden, sind die Journalisten schuld. Und wenn überhaupt alles schiefläuft, sind‘s die Politiker.
Kein Wunder, dass da am Ende manche mitleidlos vor die Tür gesetzt werden. Direkt, wie in dem Märchen. Aber häufiger noch indirekt, mit Worten und Gesten, hinter mehr oder weniger vorgehaltener Hand; und heute oft anonym als Mobbing oder Shitstorm in den sozialen Medien.
Natürlich muss man in schwierigen oder sogar bedrohlichen Situationen nach Lösungen suchen. Und natürlich kann da auch zugehören, die Urheber des Problems zu benennen. Aber oft geht es auch bei uns zu, wie bei den 10 Bauern im Märchen: Der Schuldige wird auf mehr als zweifelhafte Weise ermittelt - Hauptsache, es wird einer gefunden. Eine sachliche Klärung findet oft nicht statt. Das Problem selbst bleibt ungelöst und fällt am Ende oft wieder auf die zurück, die es mit einem Sündenbock aus der Welt schaffen wollten.
Und dabei ginge es auch anders: Was wäre zum Beispiel gewesen, wenn alle zehn Bauern im Tempel zusammengeblieben wären? – Oder wenn sich alle rausgewagt hätten, was natürlich bedeutet hätte, dass dann nicht einer zum Sündenbock gemacht wird, sondern dass alle zehn auf sich selbst sehen und ihre eigenen Fehler eingestehen. "Hätte" und "wäre" – das Märchen wird bleiben, wie es ist. Aber in unserem Leben kann es anders laufen. Und ich hoffe, das tut es auch.
Es gilt das gesprochene Wort.
Quelle: Hug, Barbara und Hans (Hrsg.): Blätter, die uns durch das Jahr begleiten. Kreuz 1992. 29. August