Sendung zum Nachlesen
Je älter ich werde, desto länger dauert es, bis eine Wunde verheilt. Und sie heilt auch nicht mehr so gut wie früher. Da bleiben Spuren auf der Haut, nicht schön, aber auch nicht schlimm… Manchmal streiche ich dann darüber - über die OP-Narbe am Bauch oder die Narbe am Bein, die kleine auf der Stirn… Manche habe ich schon aus Kindertagen. Und ich erinnere mich, wenn ich sie betrachte.
Es gibt aber auch unsichtbare Narben. Und Wunden, die nicht zu sehen sind. Wenn mich Worte verletzt haben, wenn ich selbst etwas bereue und mich sogar schäme… Dann schmerzt die Tut-immer-noch-weh-Narbe. Die Wunde sowieso. Vor allem wenn ich kein Wort darüber verliere. Den Schmerz nicht ausspreche. Als könnte ich ihn so zum Schweigen bringen. Ein Sprichwort aus Eritrea sagt: If you hide your wound, you are hiding your medicine. Wenn du deine Wunde verbirgst, dann verbirgst du deine Medizin.
Die Schriftstellerin Fisseah Mebratu aus Eritrea hat das gelernt. Die Wunden zeigen. Sie nicht verschweigen. Indem sie Gedichte schreibt. Anschreibt gegen Trauer und Wut, gegen den Wund-Schmerz an Leib und Seele. Sechs Jahre lang sitzt sie in ihrem Land unschuldig im Gefängnis. Sie wird gefoltert, hat schreckliche Schmerzen. Am schlimmsten ist die Zeit in einer winzigen Einzelzelle. Isoliert. Ohne Fenster. Und ohne Stift. Schreiben hätte ihr geholfen. Sie kann es nachholen. Später.
Ihren ersten Gedichtband nennt sie in ihrer Muttersprache Tigrinya „Ich lebe noch“. Fisseah Mebratu lebt und lacht. Heute. Wieder. Ihre Wunden zu zeigen, hilft ihr beim Überleben. So verstehe ich auch eine Kunstinstallation von Joseph Beuys. „Zeig deine Wunde“ hat der Künstler mit Kreide auf zwei kleine schwarze Schultafeln geschrieben. Die ganze Installation sieht ein bisschen trist aus... Beuys hält jeden Menschen und jede Gesellschaft für verletzt, verwundet - körperlich und seelisch. Ich glaube, er hat recht. Und da hilft kein Versteckspiel. Im Gegenteil, Verstecken macht erst recht krank. Es braucht Öffentlichkeit, Lobbyarbeit. Und stabile Schutzräume, die Licht und Luft reinlassen. Es braucht Menschen, die kommen und sagen: „Zeig deine Wunde“, bleib nicht für dich, zeig dich.
Jesus hat das so gemacht. Er hat die Abgeschobenen gesehen, die Unsichtbaren sichtbar gemacht. Und am Ende macht er sich selbst sichtbar. Nach Folter, Schmerz und Todesfinsternis zeigt er sich mit seinen Wunden. Auferstanden zeigt er mir mein eigenes verwundetes und wunderbares Leben.
Es gilt das gesprochene Wort.