Morgenandacht
Gerecht oder ungerecht?
15.05.2019 06:35
Sendung zum Nachlesen

Heute ist mir etwas Unglaubliches passiert. Ey, ich bin so sauer! Ich bin von Polen rübergekommen zum Spargelstechen. Saisonarbeit! Mieser Job, immer auf den Knien. Aber man muss das auch können! Da kann man nicht jeden nehmen!

 

Jedenfalls, wir kommen so zehn Mann hoch morgens um fünf bei dem Bauern an, für den wir schon im letzten Jahr gearbeitet haben. Der freut sich, begrüßt uns, wir vereinbaren 100 Euro pro Tag. Das sind 12,50 Euro pro Stunde – mehr als Mindestlohn! – und wir rücken aufs Feld. Ein echt großes Feld.

 

So um zehn, nach der Frühstückspause, sehe ich dann, dass noch ein anderer LKW ankommt. Auch noch so zehn Leute. Der Bauer verhandelt auch mit denen und schickt sie zu uns. "Guter Lohn, was?", sage ich zu der Frau, die neben mir auf den Knien liegt. "Keine Ahnung", sagt sie, "wir haben gar nicht danach gefragt. Wir waren ja spät dran und sind froh, dass wir überhaupt noch was gefunden haben."

 

Nun, wir schaffen so vor uns hin, buddeln, stechen, buddeln, stechen, und mir tut schon ganz schön das Kreuz weh. Als dann um zwei Uhr nachmittags noch mal ein Trupp Spargelstecher zu uns stößt, da denke ich bei mir: Das lohnt sich ja schon gar nicht mehr, dass die sich die Finger noch schmutzig machen.

 

Und dann, so um vier Uhr, machen wir Schluss. Wir gehen zum Hof, waschen uns die Hände, räumen unser Arbeitsgerät weg. Der Bauer kommt mit einer Tüte voll Geld. Wir stellen uns der Reihe nach an. Wir vom ersten Trupp natürlich zuerst! Der Bauer schüttelt mir die Hand und bedankt sich, dann macht er seine Tüte auf und drückt jedem von uns eine Abrechnung und 100 Euro in die Hand. Ein prima Arbeitgeber! Ich freue mich und stecke das Geld sofort weg. Dann beobachte ich die anderen. Der Bauer schüttelt jedem die Hand, lächelt, greift in die Tüte und holt etwas Grünes heraus. Jetzt ist unser Trupp vorbei. Jetzt muss er nach anderen Scheinen suchen. Aber nein! Nach wie vor zieht er Hunderter aus der Tüte – es scheint, als seien da gar keine anderen Scheine drin!

 

Mir steigt der Blutdruck. Was ist das denn? Das ist doch total ungerecht! Sogar die, die ganz zuletzt gekommen sind, bekommen einen Huni! Dabei habe ich den ganzen Tag auf den Knien geschuftet, und die haben sich vielleicht gerade 20mal gebückt! Ich merke, wie ein Raunen durch unsere Reihe geht. "Ey, was soll das?" ruft unser Vorarbeiter dem Bauern zu. "So war das aber nicht vereinbart!"

 

"Nicht?" fragt der Bauer verwundert. "Hatten wir uns nicht auf 100 Euro geeinigt?" Unser Vorarbeiter schweigt. Das hatten wir, keine Frage. "Aber wir haben viel mehr gearbeitet als die anderen", muckt er dann auf. "Da müssen wir auch viel mehr Lohn kriegen!"

 

"Ich weiß nicht, was ihr wollt" sagt der Bauer und schüttelt den Kopf. "Heute morgen habt ihr die Bezahlung noch gut gefunden!", antwortet der Bauer. "Und sie hat sich nicht geändert. Wenn ich den anderen genauso viel geben will wie euch – was geht es euch an? Das ist doch mein Geld! Oder wollt ihr mir vorwerfen, dass ich ein gutes Herz habe?"

 

Ich warf einen Blick auf meine zu spät gekommenen Landsleute. Reich sahen die nicht aus. Wie die sich freuten! Obwohl – es war ihnen auch ein bisschen peinlich. Das will ich aber auch hoffen! Wo kämen wir da hin, wenn jeder Bauer zahlt, was er will!

Na, jedenfalls, nachdem ich das jetzt so erzählt habe, beruhige ich mich langsam ein bisschen wieder. Vergleichen ist eben das Ende vom Glück. Und ich bin ja froh, dass es so Menschen wie den Bauern überhaupt gibt! Normal ist das nicht, soviel steht fest.

 

Diese Geschichte hat Jesus in der Bibel erzählt, im 20. Kapitel des Matthäusevangeliums. Natürlich nicht genau so, sondern auf dem Hintergrund der Zeit, in der er lebte. Er wollte damit nicht unser Wirtschaftssystem in Frage stellen. Jedenfalls nicht in erster Linie. Er wollte damit zeigen, wie Gerechtigkeit im Himmel aussieht. Und dass wir uns, wenn wir ein bisschen mehr wie er dächten, diesen Himmel schon auf Erden schaffen könnten – jedenfalls hin und wieder.

 

(Matthäus 20, 1-16)

 

 

Es gilt das gesprochene Wort.