Sendung zum Nachlesen
Auf einer späten Zugfahrt von Würzburg nach Stuttgart sitze ich so ziemlich allein im Wagen. Irgendwo steigen dann ein paar junge Männer ein und setzen sich auf den Vierersitz direkt neben mich. So kann ich ein bisschen hören, was sie sich erzählen.
Sie sind alle um die 20 und kommen aus den verschiedensten Ländern. Alle sprechen deutsch – der eine mehr, der andere weniger. Mit ihren Muttersprachen können sie bei ihrer Verständigung nichts anfangen – der eine spricht russisch, der andere albanisch, der dritte französisch, und der vierte kommt irgendwo aus Afrika. Einer war gerade aus seinem Elternhaus abgehauen, der andere hat seit drei Tagen nicht geschlafen, der dritte ist stolz darauf, dass er schon den ganzen Tag Zug fährt – ohne Fahrkarte, wohlgemerkt. Die vier kannten sich vorher offenbar überhaupt nicht, sie haben sich erst am Bahnhof kennengelernt – aber sie sind sofort eine Gemeinschaft. Klar, sie machen alle ein bisschen auf cool und geben sich mutiger, als sie sich wahrscheinlich fühlen. Ab und zu fragen sie mich etwas, und obwohl mir ein bisschen mulmig ist, antworte ich freundlich. Und später beim Aussteigen trägt einer sogar meinen Koffer.
Während ich ihr Gespräch verfolge, ihre Querelen mit der Polizei, ihren Ehrenkodex, der Unwille, sich irgendwo anzupassen oder unterkriegen zu lassen – da denke ich: Was müsste wohl passieren, damit diese jungen Leute in der Gesellschaft ankommen? Wer gibt ihnen einen Ausbildungsplatz, damit sie Teil der Gesellschaft werden, selbst Geldverdienen können, Familien gründen können und Verantwortung übernehmen? Wen würden sie dazu brauchen? Oder wollen sie das vielleicht überhaupt nicht? Haben sie ganz andere Werte?
Und ich muss an die ersten Jünger Jesu denken. Das waren wahrscheinlich auch solche jungen Leute. Junge Männer auf der Suche nach ihrem Platz im Leben und nach einem Menschen, dem sie folgen und dem sie vertrauen können, weil er sie so akzeptiert, wie sie sind.
Mir wird klar: Jesus hat für seine Mission nicht nach jungen Leuten mit Abitur gesucht! Wenn ich dem Evangelisten Johannes glaube, dann hat er ein paar sinnsuchende Jugendliche von der Straße aufgelesen. Und den einen einzigen, der in die Schule ging, den Nathanael, den hat er auch noch dazu angestiftet, das Studium zu schmeißen!
Nun möchte ich natürlich niemanden dazu anstiften, die Schule zu schmeißen. Aber zu meinen: Leute, die weniger Bildung haben oder sich nicht so gut ausdrücken können oder die kein Zuhause haben, die seien weniger wert – das ist ein Irrtum. Jede und jeder hat etwas Gutes, etwas Wertvolles in sich. Jesus war einer, der den Leuten dieses Gute einfach zutrauen konnte. Ob ich auch so sein könnte?
Dann sollte ich niemandem den Eindruck vermitteln, er sei nichts wert. Denn wer selbst von sich denkt: Ich bin nichts wert – der braucht immer andere, die in seinen Augen noch weniger wert sind, um sich selbst ein bisschen größer zu fühlen. Deshalb muss er die anderen klein machen. Wer sich wertvoll fühlt, der ist selber groß und braucht auch andere nicht klein zu machen. Jesus wusste: Er hat Gott auf seiner Seite. Er ist Gottes Kind. Das bin ich auch. Deshalb brauche ich keinen anderen klein zu machen. Deshalb kann ich getrost immer zuerst nach dem Guten in meinem Gegenüber Ausschau halten. Zugegeben: Manchmal falle ich dabei auf die Nase.
Aber wenn ich ängstlich bin oder wenn ich es schwer habe, weil ich anders bin, dann stellt Jesus sich auf meine Seite. Er schenkt Mut und Selbstvertrauen, damit Menschen sich wertvoll und geachtet fühlen können und andere nicht klein machen müssen. Ich wollte, die vier jungen Männer im Zug könnten das spüren. Und ich wünsche mir sehr, dass ich ihnen wenigstens eine Ahnung von diesem Gefühl geben konnte. Und den Jugendlichen wünsche ich, dass sie einen Menschen finden, dem sie vertrauen können, und dass sie einen Platz in ihrem Leben finden, der sie glücklich macht.
Es gilt das gesprochene Wort.