Morgenandacht
Morgenandacht 16.05.
16.05.2019 06:35
Sendung zum Nachlesen

Manchmal verstehe ich meinen Chef wirklich nicht! Da kann er den Hals vom Geld gar nicht voll genug kriegen – und dann lässt er den Müller einfach so vom Haken. Dabei hat der ganz schön betrogen. Und mein Chef ist ja selbst so ein ganz Ausgefuchster: Marode Firmen billig aufkaufen, zerschlagen und stückchenweise gewinnbringend weiterverkaufen. Da verdient der sich eine goldene Nase mit!

 

Na, und der Müller, das war seine rechte Hand. Sein Chefbuchhalter und mein Vorgesetzter. Das ist genau so eine Type. Die beiden haben immer zusammengesteckt und Champagner aufgemacht, wenn sie eine Firma wieder mal so richtig renditeträchtig verhökert haben. Wir anderen waren da außen vor.

 

Das hat mich schon geärgert! Ich bin ja eher eine ehrliche Haut, eine Sekretärin vom alten Schlag. Und da hat es mich gefreut, als ich plötzlich entdeckt habe, dass der Müller, der Windhund, für ein und dieselbe Sache zwei Rechnungen geschrieben hat. Er hält mich für naiv – er hat mich auch noch beide tippen lassen!

 

Ich dachte: Das ist die Chance, ihn loszuwerden. Ich bin hin zum Chef und habe ihm alles erzählt. Ich wäre gern Mäuschen gewesen, als der Chef den Müller zu sich zitiert hat. Mit hochrotem Kopf kam der wieder raus – fast mitleiderregend!

 

Dann hörten wir eine ganze Weile nichts mehr von ihm. Ich wurde ins Chefbüro befördert und hatte andere Aufgaben. Irgendwann hörte ich, dass der Müller jetzt bei einer der Firmen untergekommen war, die wir mal in der Mangel hatten.

 

Ja, und neulich treffe ich den Eigentümer von dieser Firma. Und der strahlt mich an und sagt: Richten Sie Ihrem Chef mal viele Grüße aus. Wir sind ihm ja so dankbar, dass er damals mit dem Preis für unser altes Firmengelände raufgegangen ist. Das hat unserer Liquidität sehr geholfen – und jetzt geht es uns richtig gut!"

 

Ich starre ihn verwundert an. Mit dem Preis raufgegangen? So kenne ich meinen Chef gar nicht! Zufällig traf ich bald darauf noch einen anderen alten Kunden, und der erzählte mir etwas ganz Ähnliches.

 

Jetzt war ich neugierig geworden. Ich prüfte die beiden Fälle, und siehe da: Auch hier waren gefälschte Dokumente im Spiel. Irgendjemand – und ich ahnte auch, wer – hatte die Zahlen nachträglich zugunsten unserer Geschäftspartner verändert!

 

Ich verbrachte eine schlaflose Nacht. Sollte ich den Müller jetzt noch verpfeifen? Andererseits: Recht bleibt Recht, und er ist schließlich der Betrüger. Am nächsten Morgen gehe ich zum Chef und erzähle ihm von meiner Entdeckung. Der stutzt, holt sich die Bücher, forscht im Computer – und dann grinst er übers ganze Gesicht. "Der Müller, der Müller", sagt er. "Schlau ist er, das muss man ihm lassen!" Und dann klappt er die Bücher wieder zu. "Dann rufe ich jetzt mal unseren Anwalt an", sage ich. "Unseren Anwalt? Was hat denn der damit zu tun?" fragt der Chef zurück. "Na, wollen Sie den Müller denn nicht verklagen?" "Verklagen? – Ach, Frau Schmidt, wieso soll ich den verklagen? Mir tut es nicht wirklich weh, und er hat wieder einen Job. Er hat sein Problem doch raffiniert gelöst! Hat sich Freunde gemacht, und auch noch mit meinem Geld! Und wissen Sie, was das Witzigste ist: Die sind jetzt sogar gut auf mich zu sprechen, ohne dass ich irgendetwas dafür könnte! Verklagen! Loben muss man ihn für seinen kreativen Umgang mit seinen Ressourcen." "Seine Ressourcen?" frage ich indigniert. "Das war doch Ihr Geld!" "Ach, das Geld", winkt er ab. "Das meine ich nicht. Ich meine die "Freunde", die er sich gemacht hat. Die sind viel wichtiger als Geld. Und manchmal sogar wichtiger als Ihre Korrektheit, Frau Schmidt!"

 

Diese Geschichte hat Jesus in der Bibel erzählt, im 16. Kapitel des Lukasevangeliums. Natürlich nicht genau so, sondern auf dem Hintergrund der Zeit, in der er lebte. Ich höre daraus: Freundschaft ist wichtiger als eine korrekte Buchhaltung. Auf jeden Fall sagt mir das: Gott wird uns dereinst im Himmel mit der Einschätzung unserer Taten verblüffen.

 

(Lukas 16, 1-13)

 

Es gilt das gesprochene Wort.