Morgenandacht
Horizonterweiterung
27.06.2016 06:35

Heute ist die Bank auf dem Darß mit Blick aufs Meer mausgrau. In meinen Erinnerungen aber bleibt sie Immergrün. Eine Hoffnungsbank für eine, die sich nicht mit engen Horizonten abfinden will. So eine bin ich.

 

Als ich vor einigen Wochen wieder einmal auf meiner Bank rastete, fragte mich ein etwa Fünfjähriger, der neben mir mit seinem Fernglas hantierte: wohin fährt das Schiff da ganz hinten? Ich musste lachen, weil ich mir diese Frage in den Zeiten der DDR auch immer und immer wieder gestellt habe. Wohin fahren die großen Schiffe am Horizont? Fahren sie nach Dänemark oder Schweden? Wie mag es dort sein? Werde ich selbst einmal auf einem solchen Schiff reisen können – raus aus der Enge der umgrenzten DDR? Sie ließen nachts an den Ostseeküsten gnadenlos grelle Scheinwerfer über die Strände fluten – über späte Sonnenuntergangsanbeter, über Liebespaare in Sandkulen oder auch solche, die eine Flucht mit dem Schlauchboot über das grenzenlose Meer wagen wollten. Wie oft habe ich mich weggeduckt auf meiner Bank, um mein Gesicht im Licht nicht preiszugeben.

 

Wohin fährt das Schiff, unterbricht der Fünfjährige meine Gedanken. Ich denke, dass es nach Schweden fährt, antworte ich ihm. Dort war ich schon mal, antwortet er strahlend. Dort sind die Häuser rot.

 

Dort war er schon, der kleine Weltbürger, der das Glück hat, Eltern mit einem privilegierten Pass zu haben. Einem deutschen Pass, wie ich annehme, der einem Kind schon früh zeigt, wie wunderbar Freiheit und Grenzenlosigkeit sind . Er wird vielleicht nicht in alle, aber in manche Welt kommen. Reisen kostet Geld. Aber er muss sich nicht, wie ich es einmal musste, und wie es heute Millionen Menschen wieder müssen, innerlich mit Grenzen abfinden, an denen geschossen wird, an denen man gefangen genommen wird, an denen die Hoffnungen auf Freiheit enden. Er muss wohl niemals mit seiner Familie korrupte Schleuser mit Geld füttern, um hinter dem Horizont eines beengten, bedrohten Lebens ein Leben in Würde beginnen zu können.

 

Es ist doch toll, sage ich zu dem Jungen, dass es hinter dem Schiff am Horizont immer weiter und weiter geht. Und dass man manchmal ganz weit reisen darf, um andere Länder und Menschen kennenzulernen. Das Kind nickt zustimmend.

 

Heute vor 25 Jahren, am 27. Juni 1991 haben sich die Evangelischen Kirchen in Ostdeutschland und Westdeutschland wieder zu einer gemeinsamen Kirche vereinigt. Viele erinnern sich daran. Das war damals ein großes und nicht unumstrittenes Ereignis. Würden wir das denn schaffen, unsere so unterschiedlichen Erfahrungen in der Kirche der damaligen Bundesrepublik und einer „Kirche im Sozialismus“ in eine neue, die Evangelische Kirche in Deutschland, einzubringen? Würden wir einander zuhören, einander glauben, einander vergeben? Würden wir voneinander lernen wollen, dass beide Kirchen Mut, Glauben, Engagement und Ideen einzubringen hatten? Würden wir dem jeweils anderen ein Stück seiner Identität lassen, ohne ihn zu klein zu reden?

 

 1991 gehörte ich zu den Skeptikern einer solchen vereinigten Kirche. Ich konnte mir eine so einschneidende Veränderung nicht als Horizonterweiterung vorstellen. Ich musste erst lernen, aus einem Kokon aufgezwungener Begrenzung herauszukriechen. Heute empfinde ich die gemeinsame Evangelische Kirche in Deutschland als Segen. Sie hat Schwachstellen, aber vor allem hat sie eine enorme Vielfalt. An ihr habe ich teil, Sie gestalte ich mit. Und sie sieht ihre wichtige Verpflichtung gegenüber den Menschen, die jetzt als Flüchtende Grenzen überwinden wollen – aus Armut, aus Krieg, aus menschenunwürdigen Verhältnissen.

 

Segen, den Gott austeilt, der muss ausstrahlen.