Als ich Kind war, hatte ich Wünsche und Träume, wie sie vielleicht nur Kinder haben. Ich flog mit Vögeln in ferne Länder, ritt auf Kamelen, war in Wäldern zuhause. Da war aber auch Hunger, ich torkelte vor Durst – und fand Früchte, deren Saft mich jubeln ließ. Ich segelte über Meere, geriet in Stürme. Und vom Mastkorb aus hielt ich Ausschau, ob Land in Sicht wäre.
So lebte ein Kind auf dem Planeten Fantasie, streunte durch Länder und durch Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat, wie es im Märchen heißt. Und die Wünsche konnten gar nicht groß genug sein! Denn sie waren dazu da, erfüllt zu werden.
„Träume und Märchen sind schön, aber wirkungslos“, höre ich heute, der Erwachsene. „Das Wünschen richtet in der Welt der Kämpfe und Debatten doch nichts aus!“ Daran allerdings will ich nicht glauben. Denn wie arm klänge es, wenn allein das sogenannte Konzert der Interessen tönen würde, das in meinen Ohren überhaupt nicht wie ein Konzert klingt, sondern oft ohne Musikalität und Schwung: Effektiv und nüchtern müsse man agieren, heißt es, sich mit dem Gegebenen arrangieren.
Das freilich ist mir zu wenig. Ich hoffe auf Veränderung. Die harte Wirklichkeit ist für mich nicht der Weisheit letzter Schluss. Vor lauter Härte ist sie ohnehin staubtrocken, ein Erdboden, der auf Wasser hofft. Luft und Lockerheit hat er verdient. Regenwürmer sollen in ihm graben, damit Neues wächst.
Gute Wünsche verändern die Welt! Zumindest einen Menschen. Denn wer einem anderen Gutes sagt, malt damit ein Bild, in das dieser hineinspazieren kann, in dem er Atem findet, sich erproben und ausstrecken kann. Die Wirkung einer guten Meinung ist nachweisbar, habe ich erlebt. Dank ihr wurde ich zu jemandem, der ich nie zuvor gewesen war. Es passierte in dem für mich harten Schulfach Geographie. Dort konnte ich kaum Fuß fassen, was womöglich an meinen fantastischen Traumreisen lag, die keine Grenzen kannten. In Erdkunde konnte ich kaum exakte Grenzen benennen, überhaupt Länder, Flüsse und Städte erkennen und einander zuordnen.
„Und wer hat den Unterricht besonders vorangebracht?“, fragte die neue Lehrerin, als die Mitarbeitsnoten besprochen wurden. Einige Namen wurden genannt. Aber nein, ausgerechnet ich sollte die beste Orientierung gehabt haben. Alle wunderten sich, ich schüttelte den Kopf, weil meine geographische Hilflosigkeit fast sprichwörtlich war. Die Lehrerin hatte es offenbar extrem gut mit mir gemeint.
Und dann? Einige Wochen später hatte ich auch schriftlich bestens abgeschnitten. Ich, der Geschichtenlüstling und Wunschgierige, der Bewohner des Planeten Fantasie, war offenbar gar nicht so hilflos auf dem Planeten Erde. Ich hatte mich nachprüfbar auf ihm zurechtgefunden. Eine schöne Lehre: Wenn dir jemand Gutes will, wächst du in das Gute hinein. Das vermeintlich Unabänderliche wird aufgebrochen.
Die für mich schönste Quelle des Wünschens und Träumens ist die Bibel. Ihre guten Wünsche sind uralt, fantastisch groß und märchenhaft. Sie können Flügel wachsen lassen! Den Erdboden aber lassen sie deshalb noch lange nicht aus dem Blick. Im biblischen Buch der Lieder etwa ist von Engeln die Rede, denen Gott befohlen hat, „dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.“
Als moderner Zeitgenosse müsste ich streng genommen immun gegenüber Engeln sein. Das sei doch unvernünftig, kitschig. So schritte ich mit nichts anderem als Vernunft durchs Leben und wäre wunschlos unglücklich.
Nein, lieber zähle ich mich zu den Glücklichen, weil ich noch Wünsche habe und an Bildern hänge wie dem der tragenden Engel. Kaum weniger märchenhaft: Einer Braut kann es geschehen, auf Händen getragen zu werden. Am Hochzeitstag wird sie über die Türschwelle gehoben. Allerdings kann selbst der stärkste Bräutigam der Welt die Braut nicht ein ganzes Leben tragen. Er ist nur ein Mensch und hat im Geheimen womöglich ebenfalls den Wunsch, getragen zu werden.
So muss es nicht das Schlechteste sein, sich auf das Heer der himmlischen Heerscharen verlassen zu können, dessen Größe die Bibel einmal mit Tausend mal Tausend beziffert hat: Da wird schon ein Engel aufzutreiben sein, der trägt.
Besonders schön: Der Wunsch vergisst das Winzige nicht. Fast witzig klein erscheint der Gewinn, den die Himmelswesen bescheren. Der Fuß, heißt es, soll nicht an einen Stein stoßen. Wer schon einmal mit dem Zeh gegen einen Stein gestoßen ist, wird darüber nicht lachen, sondern sich freuen: Dem Herrn des Himmels mitsamt seinen Engeln ist kein Zeh zu unbedeutend, als dass er ihn nicht sicher tragen wollte.
Wer an die Kraft der guten Wünsche glaubt, kann zuweilen einem amüsierten, ein wenig spöttischen Lächeln begegnen. „Gute Wünsche baden das Leben in Nettigkeit, doch das Kantige wird übersehen“, heißt es. Aber ist es nicht eher umgekehrt? Denn wenn ich alles nett fände, bräuchte ich doch auf nichts mehr zu hoffen. Nein, wer Wünsche hat, verschließt die Augen nicht vor Kurven, Brüchen und Schieflagen, glaube ich. Sie sind gerade der Grund dafür, dass man auf Gutes hofft. In der Bibel jedenfalls wird das Dunkle nicht ausgesperrt.
So stellt ein Wunsch aus den Psalmen eine wunderbare Ernte in Aussicht. Allerdings: „Die mit Tränen säen“, heißt es, „werden mit Freuden ernten.“
Aber wie soll das denn möglich sein? Denn wer traurig ist und weint, hat gewiss nicht das Gefühl, eine reiche Ernte einzufahren.
Aber das wird nicht behauptet. Denn wer sät, erntet ja noch nicht. Es muss offenbar Zeit vergehen. Dennoch ist es ungewöhnlich, ausgerechnet Tränen als Saatgut für eine spätere Ernte zu verstehen. Schließlich gilt es eher als Leistung, Tränen zu unterdrücken. Dabei leiden viele unter ihrer Traurigkeit, beobachte ich, weil sie permanent damit beschäftigt sind, nur ja nicht traurig zu wirken. Anders der biblische Wunsch, der ermuntert, nicht zu wenig zu weinen. Welch eine Lösung! Es kann das Ende der Verkrampfung sein.
Manche können kaum oder gar nicht weinen, sie sehnen sich danach. Andere pflegen Techniken und Taktiken, wie sie Tränen verhindern. So stauen sich diese auf. Lösend, fast erlösend ist es, wenn man sich eingestehen kann: „Es tut weh.“ Dann weitet sich etwas in mir, ich atme auf und merke, wie sich etwas zurechtzurücken beginnt. Ich finde wieder Wohnung bei mir.
Es wird nicht zu viel, sondern zu wenig geweint, glaubt die Bibel. Sie wünscht Freude dem, der keine Hoffnung wachsen sieht. Tränen weichen den verkrusteten Boden auf. Unter der Oberfläche keimt es. Es ist nicht so, als ob es auf dem Weg zur Ernte keine Schmerzen geben würde. Doch die Süßigkeit der Früchte lässt sich oft besonders intensiv dann genießen, wenn man lange Zeit vergeblich auf sie gewartet hat.
Einst habe ich Theologie studiert, bin zum Pfarrer ausgebildet worden. Ich habe kluge Wissenschaftler gehört und Quellen studiert, mit anderen debattiert und die hohe theologische Schule der Skepsis durchlaufen, die die Bibel mit Vernunft und distanziert betrachtet. Seitdem sind viele Jahre vergangen. Und geblieben ist? Die Skepsis – allerdings nicht gegenüber der Bibel, sondern gegenüber einem akademischen Übereifer, der alles Zauberhafte, Märchenhafte und erschütternd Schöne der Bibel erstickt.
Heute höre ich ihre Worte oft wieder wie ein Kind, sauge sie auf, träume und werde friedlich, gerade weil ich mit der Welt nicht immer zufrieden bin. Die Wünsche der Bibel sind für mich Poesie, Klang, Licht – ein Feuer, das immer wieder neu entzünden kann.
Wohl deshalb gehört zu meinen Lieblingswünschen ein Wort aus dem ersten Thessalonicherbrief. „Denn ihr alle seid Kinder des Lichtes und Kinder des Tages. Wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis.“
Das Licht ist mehr als ein rein physikalisches Phänomen, sondern laut Bibel sogar eine Persönlichkeit. Sie will keine Einzelgängerin sein, sondern hat Sehnsucht: Sie scheint für mich – und jeden, da ja alle als „Kinder des Tages“ gelten. Das Licht sondert nicht aus, sondern verbindet Menschen, hat eine riesige Familie um sich geschart.
Es gehört offenbar zur Natur des Menschen, sich nach Helligkeit zu sehnen. Wenn die Tage länger werden, fiebern Kinder jenem Augenblick entgegen, in kurzen Hosen nach draußen zu dürfen. Auch die Sommerferien jagen in der Regel keinen Schrecken ein, sondern weisen in ein Land, in dem man sich frei und heimisch fühlt. Deswegen muss ich meine Freude am Dämmerlicht nicht aufgeben. Die Nacht kann besänftigende Kräfte haben. Ein Spaziergang im Nebel euphorisiert mich. Und doch lasse ich mich gern „Kind des Lichts“ rufen, weil die Bibel wünscht: Der Mensch soll Schatten werfen und sich nicht in Schatten flüchten müssen.
Das Licht spielt in meiner frühesten Erinnerung eine große Rolle: Ich wache auf, kann nichts sehen. Alles ist dunkel. Ich werde an die Hand genommen, komme nach draußen. Frühstück. Dann geht es zurück ins Kinderzimmer. Und jetzt? Alles hell! Ich kann sehen. Aber was? Es sind Wünsche, Träume, Märchen - sehr konkret: Ein Bilderbuch, bislang unbekannt. Eine Eisenbahn, bislang unbekannt. Vier Kerzen brennen.
Meine erste Erinnerung ist ein Fest, das sagt: Der Mensch gehört zum Licht. Das ist für mich die Summe allen Wünschens. Die Nacht bleibt. Geboren aber ist der Mensch, das Leben zu feiern.