Am Sonntagmorgen
Trink deinen Wein mit gutem Mut!
Genuss mit Leidenschaft
02.10.2016 08:35

„Abstand! Unterbrechung!“, ruft es in mir. „Bitte Pause!“ Nein, ich bin nicht beim Zirkeltraining oder auf einem steilen Anstieg im Hochgebirge. Stattdessen umzingeln mich Mails und Meinungen: Sprüche, Ansprüche und Forderungen. Aber dann ist endlich Pause, die Betriebsamkeit ebbt ab. Die Aufregung jedoch hallt nach, noch atme ich nicht auf. Offenbar lässt sich Erholung nicht herstellen oder  herbeizitieren.

Deshalb suche ich immer neu nach dem, was mich beruhigen kann. Bei Stressforschern werde ich allerdings nicht fündig. „Das Wissen um die Gefahren von Stress hat in den letzten Jahrzehnten enorm zugenommen“, lese ich über einen Forscherkongress. „Aber nicht das Wissen, wie man dem praktisch entgegenwirken kann.“ Denn die Klage über Zeitnot, Belastungen und Überforderung nehme eher zu.

Selbst Überlastungsexperten tun sich schwer, Wege aufzuzeigen aus der Überlastung heraus. Auch Ratgeber mit knackigen Impulsen, Einrahmungen und Ausrufezeichen überzeugen mich nicht: weil sie den Eindruck vermitteln, selbst das sogenannte Entschleunigen müsse nun noch effektiv gestaltet werden. Und völlig absurd wird es, wenn ausgerechnet Workshops dazu animieren, ein Leben mit weniger Work und Shopping zu führen.

Nein, ich will beim Erholen nicht alles perfekt machen, nur noch vegan genießen und Zuckerzufuhr allenfalls per Smoothie. Ich pfeife auf innere Balance und die kunstvolle Komposition der Freizeitfreude. Stattdessen lässt mich ein Ruf aufhorchen, der erfrischend einfach klingt: „Trink deinen Wein mit gutem Mut!“

 

Mutig seinen Wein trinken – diese Empfehlung sprudelt aus einer Quelle, die viele nun nicht gerade mit leiblichen Genüssen in Verbindung bringen, nämlich der Bibel. Da denken etliche an Moral und Richtigkeit, aber nicht an Flüssigkeiten, die beim Wettbewerb, das Leben möglichst korrekt zu absolvieren, keine Chance hätten. Der Weingenuss jedoch ist im Judentum und Christentum nicht nur erlaubt, sondern soll sogar „des Menschen Herz erfreuen“, wie es in den Psalmen heißt.

Der Auftrag zum Trinken gefällt mir, auch wenn ich dabei keine Rekorde erziele. Genau das allerdings riet mir ein Kirchenvorsteher im Vogelsberg während meiner Ausbildung zum Pfarrer: „Schließen Sie sich in die Wohnung ein und trinken Sie so lange, bis Sie nicht mehr können.“ Über die konsumierte Menge müsse ich Buch führen. So wüsste ich dann außerhalb der Wohnung immer, wann ich mich bremsen müsse, um standesgemäß aufzutreten: trinkfest, aber zumindest nicht völlig besinnungslos.

Dieser Versuchsanordnung habe ich mich dann doch nicht gestellt, allerdings bin ich auch kein Pfarrer geworden, sondern freier Journalist, Schriftsteller und Bibelgenießer.

Dazu pilgere ich gern, aber nicht nach Santiago de Compostela. Lieber spaziere ich durch Weinberge, wo jene Frucht reift, von der schon König Salomo schwärmte, dem der Aufruf zum Weintrinken zugeschrieben wird.

 

Salomo galt als weise, besaß große Gärten, Teiche und viele andere Kostbarkeiten. Über mangelnde Zuwendung brauchte er sich nicht beklagen. Er hatte 700 Hauptfrauen und 300 Nebenfrauen, was als Burnoutprophylaxe allerdings nicht zu funktionieren schien. Denn oft beschlich ihn das Gefühl der Vergeblichkeit, immer wieder zweifelte er die Bedeutung angeblicher Wichtigkeiten an. „Was man getan hat, eben das tut man hernach wieder“, klagt Salomo im Alten Testament im Buch des Predigers. „Und es geschieht nichts Neues unter der Sonne.“

Selbst bei Sonnenschein scheint alles trübe zu sein. Kindliche Entdeckungsfreude liegt Generationen zurück! Die Menschen nörgeln, sind voller Neid. Auch sich zu bilden, hilft nicht weiter. „Denn wo viel Weisheit ist, da ist viel Grämen, und wer viel lernt, der muss viel leiden.“ Alles eitel, ungerecht, alles ist umsonst.

 

Dann aber wird es dem so klug klagenden Prediger zu viel, er unterbricht sein Leiden an der Welt und hat konkrete Tipps, was hilft. Zum Beispiel fröhlich sein bei der Arbeit, sodass man nicht mehr ständig auf die nächste Pause schielen muss. Außerdem hilft: Geselligkeit! Sie muss ja nicht gleich paradiesisch sein, gemeint ist kein fantastisch-romantisches Liebesideal, sondern schlicht: Zusammenhalt. Denn: „So ist’s ja besser zu zweien als allein; denn sie haben guten Lohn für ihre Mühe. Fällt einer von ihnen, so hilft ihm sein Gesell auf. Auch wenn zwei beieinander liegen, wärmen sie sich; wie kann ein einzelner warm werden?“ So findet der Prediger Salomo Oasen, die erfrischen trotz so mancher Vergeblichkeit. Die schönste Freude aber geschieht am Tisch:

„So geh hin und iss dein Brot mit Freuden, trink deinen Wein mit gutem Mut; denn dies dein Tun hat Gott schon längst gefallen.“

 

Der Wein spielt auch im Leben Jesu eine große Rolle. Er gilt in der Bibel offenbar nicht nur als ein großer Heiliger, Sohn Gottes, sondern als ein Mensch mit der Begabung zur Ausgelassenheit. Es war auf der Hochzeit zu Kana: Der Wein war ausgegangen – und mit einem Mal war neuer da!

Sechs große, steinerne Krüge hatte Jesus mit Wasser füllen lassen, und plötzlich war daraus bester Wein geworden. Die Gäste konnten es kaum glauben – nicht nur wegen des Wunders: Sondern auch, weil der Wein so kostbar war. Denn normalerweise schenkt der Gastgeber den schlechten Wein am Ende aus, wenn die Gäste es schon nicht mehr richtig merken. Nun aber: Ein hervorragender Tropfen!

Wer Wasser in fantastisch guten Wein verwandelt, lädt natürlich auch zum Trinken ein. Manchmal musste Jesus sogar hören: „Was ist dieser Mensch für ein Fresser und Weinsäufer!“ Und in der Tat: Jesus saß gern am Tisch. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass er gewisse Lieblingsthemen hatte. „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben.“ Und Gott ist der Gärtner, der den Weinberg pflegt. Welches Ziel haben Weinstock, Reben und der Gärtner? Fröhlichkeit, was Jesus nicht sagt, weil es sich von selbst versteht.

 

Hatte Jesus am Ende ein Bäuchlein vom vielen Essen und vom Trinken eine rote Nase? Jesus: Kein Vorbild für die Jugend. Für Kampagnen gegen die Macht der Drogen, unterstützt von Prominenten und Sportlern, wäre Jesus als Werbeträger sicher nicht verpflichtet worden. Dabei war er fast so etwas wie ein Sportler: Ständig reiste er umher, zu Fuß. Extremen setzte er sich aus, als er unter freiem Himmel lebte: Sage und schreibe 40 Tage in der Wüste soll er nichts gegessen und getrunken haben – auch keinen Tropfen Wein. Das war am Anfang seiner Laufbahn, bevor Jesus mit dem Wandern und Feiern begann. Ganz am Ende, als er gekreuzigt wurde, gaben sie „ihm Myrrhe in Wein zu trinken; aber er nahm’s nicht.“

Denn Jesus trank nicht Wein, um sich zu betäuben. Den Schmerz spürte er bis in den tiefsten Grund, es war das Ende aller Fröhlichkeit. Nach drei Tagen aber war das Ende noch lange nicht das Ende. Jesus, wird erzählt, schlüpfte aus dem Grab und zeigte sich den Jüngern und seinen Freunden am See. Dort briet er Brot und Fische über einem Kohlenfeuer. Was Jesus den Jüngern zu trinken reichte, das darf sich jeder selbst ausmalen.

 

Wenn der Wein in der Bibel auftaucht, geht es um Geselligkeit und Fröhlichkeit. Er gilt als Kostbarkeit, die man nicht nur kostet, sondern auskostet, bis man das ganze Leben und sich selbst als prachtvoll erlebt. Der Wein soll allerdings nicht die Sinne dämpfen, sondern alle Sinne für den Geschmack des Lebens öffnen. Es geht also nicht um ein taktisch eingesetztes Pausenelement, durch das ich möglichst rasch zum rasanten Takt der Pflichten zurückkehre. Nein, es wird eine Leidenschaft gefeiert, die dem ganzen Leben gilt.

Daher ist in der Bibel, wenn der Wein seine Aromen entfaltet, auch die Liebe nicht fern. Etwa im Hohenlied, das so heißt, weil es das höchste der Bibel ist. Da tönen Sehnsuchtssoli und Liebesduette, die in Genusslandschaften locken, in denen Wein und Liebe kaum noch zu unterscheiden sind: „Komm, lass uns aufs Feld hinausgehen und unter Zyperblumen die Nacht verbringen, dass wir früh aufbrechen zu den Weinbergen und sehen, ob der Weinstock sprosst und seine Blüten aufgehen.“ Die Liebe leiht sich die Süßigkeit der Früchte, das Sanfte und das Wilde von den Tieren. Und der Alltag wird mit Schönheit überflutet. Die Freundin ist „ein Apfelbaum unter den wilden Bäumen, meine Taube in den Felsklüften, dein Haar ist wie eine Herde Ziegen, die herabsteigen vom Gebirge Gilead, deine Lippen – eine scharlachfarbene Schnur, lass deine Brüste sein wie Trauben am Weinstock und den Duft deines Atems wie Äpfel.“

Das Hohelied ist ein ekstatisches Gebet, auch wenn es Gebet nicht heißt. Dem Höchsten schmeichelt es und faltet nicht brav die Hände, die Leidenschaft singt mit ausgestreckten Armen. Das kann ich keinem Workshop lernen, der mit effizienten Erholungsstrategien wirbt – inklusive Achtsamkeitselementen bezüglich der eigenen Körperwahrnehmung.

Der rauschhafte Genuss, zu dem die Bibel ermutigt, ist keine Strategie. Ich erfahre vielmehr tiefe Ruhe und zugleich eine befreiende Atemlosigkeit. Bejubelt wird der Wein, ohne sich auf ihn beschränken  zu müssen. Denn „der Geschmack deiner Zunge“, heißt es im Hohenlied, „ist lieblicher als Wein. Von deinen Lippen, meine Braut, träufelt Honigseim. Honig und Milch sind unter deiner Zunge, und der Duft deiner Kleider ist wie der Duft des Libanon. Lass deinen Mund sein wie guten Wein, der meinem Gaumen glatt eingeht und Lippen und Zähne mir netzt.“

Am Sonntagmorgen