Gemeinfrei via unsplash.com (Mohamed Nohassi)
Hemmungslos still
Eine Liebesgeschichte
08.07.2018 08:35
Sendung nachlesen:

Es war eine Liebeserklärung ohne jedes Wort. Kaum greifbar, was vor vielen Augen geschah. Vielleicht sind deshalb in der Bibel gleich vier Versionen dieser Begebenheit aufgezeichnet. Und alle Varianten stimmen darin überein, dass das sonderbare Geschehen still abgelaufen ist.

Aber kann man dabei wirklich von einer Liebesgeschichte sprechen? Die Heilige Schrift erzählt von der Liebe Gottes, sagen viele. Doch auf mich wirkt diese stille Begegnung so irdisch und menschlich, dass es schon wieder himmlisch ist – und genauso gut auch heute spielen kann.

 

 

 

Maria. In einer der biblischen Versionen wird dieser Name genannt. Maria also hatte keine besondere Verbindung zu jener Art des Sprechens, mit der man alles ordnen und überschaubar machen will. Schon in der Schule war das so! Nicht dass Maria nicht redete, das schon. Aber wenn sie sprach, dann in Wortkaskaden, durch die sie in einen heftigen Taumel geriet. Oder aber sie war still. Die Lehrer versuchten, ihr ein geregeltes, allgemein anerkanntes kommunikatives Verhalten beizubringen. „Bitte gliedern!“, lautete das Lernziel etwa bei Referaten. Und unter so gut wie jedem ihrer Aufsätze stand geschrieben: „Wieder zu wenig Absätze! Deshalb merken: Abschnitte helfen, Gedanken zu ordnen.“

 

Doch wie hätte sie ihre Begeisterung denn gliedern sollen? Setzte sie in der Klasse zu einem ihrer berüchtigten Wortwasserfälle an, wurde sie unterbrochen und nach vorn gerufen: „Nur nicht so aufgeregt, Maria. Hole erst einmal tief Luft, bündle deine Gedanken und versuche sie dann in einem Satz an die Tafel zu schreiben.“ Eben noch hatte sie wild zu ihren Worten gestikuliert, jetzt, vor der Klasse, war sie stumm, die Arme hingen hilflos in Richtung Boden. Genau dorthin tropften auch ihre Tränen. „Probier es doch, es ist nicht schwer!“, versuchten Mitschüler sie zu ermuntern. Sie aber war nicht dafür geboren, ihre Gefühlswelt in allgemein verdauliche Portionen zu zwingen. „Die will einfach zu viel“, wurde ihr Verhalten kommentiert. „Nimm dir doch nicht alles so zu Herzen.“ Diesen Ratschlag musste sie mehr als nur einmal einstecken.

 

Ihre Haare trug sie lang, was noch nicht ungewöhnlich ist. Doch waren sie nun wieder so lang, dass man gleich merkte: Dieses Mädchen will sich nicht begrenzen lassen. Nur konnte Maria ihre feurig-gefährliche Begeisterung kaum mit jemandem teilen. So verlor sie sich mehr und mehr in der Stille, saß nur da wie in einer anderen Welt. Im Kino knabberte sie weder an Popcorn noch an Chips, allein Weingummi glitt in ihren Mund, geräuschlos. Da waren die Leinwandbilder, die sich in ihren Augen spiegelten. Oft blieb sie mehrere Filme hintereinander im Kino. Dort lachte sie hell auf, schlüpfte in die Bilder hinein. Tränen flossen ungehemmt. Nur ihr Taschengeld war fast immer alle, was die Eltern nicht verstehen konnten: Du musst auch etwas sparen!

 

Nein, müssen wollte sie schon gar nicht. Sie war frei, auf eigene Art anders und konnte in einen Augenblick so viel Lebenslust legen, wie es anderen in einem ganzen Jahr nicht gelang. „Anziehend, aber anstrengend.“ So lautete das Fazit, das gerade unter Männern über die inzwischen junge Frau im Umlauf war. Da sie aber keine Lust verspürte, weniger faszinierend, dafür aber umgänglicher zu werden, verkroch sie sich immer wieder in ihre eigene Welt.

 

 

 

Neugierig wurde sie eines Tages, als sie jenem Mann begegnete, dessen Worte ein grenzenloses Land entwarfen. Sie hatte ihn bei einem Open-Air-Festival im Park erlebt, als er einfach nur erzählte. Das war grandios, alle anderen Künstler und Bands zuvor hatten eine tolle Show geboten. Er sprach nur, sonst nichts. Noch wunderbarer aber war: Dieser Mann wurde nicht unterbrochen, da war auch keine Tafel, die ihn nötigte, sich auf einen Satz zu begrenzen. „Er ist mir ähnlich“, spürte sie sofort. Und erst recht, als die Nacht hereinbrach und er noch immer mit seinen Worten Bilder malte, die bald in ihrem Kopf fantastischen Kinofilmen glichen.

 

 

 

Nur die engsten Vertrauten jenes Mannes schienen mit der Endlosrede nicht einverstanden. Sie mahnten den Wortlustigen: „Es ist spät, schick die Leute nach Hause.“ Solche nüchternen Kommentare seiner Vertrauten ärgerten den Erzähler, der Jesus hieß. Von Auftritt zu Auftritt hörte er sie häufiger. Am Anfang hatte er sie begeistert. Nun aber müsse, meinten seine zu Beratern gewordenen Fans von einst, das Betörende in ein gut vermittelbares Programm gegossen werden. „Du musst einfach effektiver werden“, sagten seine Jünger, „griffige Formeln statt endloser Reden.“ So war aus dem munteren Umherwandern, mit dem Jesus begonnen hatte, ein Leben geworden, das aus Verpflichtungen bestand. Seine Berater hatten einen Terminkalender eingeführt und erinnerten ihn streng daran, keine der Einladungen zu verpassen, mochten sie auch noch so unsinnig sein. Im Korsett all dieser Sitzungen sehnte sich Jesus nach seinen Anfängen zurück. Damals, noch ziemlich unbekannt, hatte er so lange erzählt, wie er eben wollte. Oder er war in vollkommene Ruhe abgetaucht, wie damals, als er für 40 Tage in die Wüste ging und nichts tat außer zu schweigen.

 

Daran mochte Jesus denken, als er wieder zu einer dieser Einladungen musste, die ihm seine Berater diktierten. Bislang konnte er die offizielle Meetingatmosphäre immer noch mit Witz und Fantasie in erfrischende Überraschung auflösen. Diesmal aber wurde er ausgesprochen seriös im Haus eines gewissen Simon empfangen. Als die Stimmung dabei war, sich dem Gefrierpunkt zu nähern, schlich, von allen unbemerkt, die begeisterte Kinogängerin Maria ins Gemach und hat bei sich: ein Pfund Salböl von unverfälschter, kostbarer Narde.

 

 

 

Längst hatte sich die diskutierende Männerrunde in ein Prüfungsgespräch für Jesus verwandelt. Er versuchte seine Ansichten, die noch nie ganz eingängig gewesen waren, zu verteidigen. Doch bald merkte er, wie nicht nur der kritische Gastgeber Simon, sondern auch die eigenen Berater unruhig wurden. Jesus solle sich in seinen Antworten doch bitte begrenzen, meinten sie. In diesem Augenblick näherte sich die in den Raum Gekommene Jesus und trat von hinten zu seinen Füßen, weinte und fing an, seine Füße mit Tränen zu benetzen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen.

 

Seine Füße feucht, warm von ihren Tränen, ihr weiches Haar auf seiner Haut. Jesus schwieg. Auch die Frau sagte nichts, küsste seine Füße und salbte sie mit Salböl; das Haus aber wurde erfüllt vom Duft des Öls.

Ein kostbarer Geruch umhüllte die beiden. Verwirrend intim war, was geschah. Die Bewegungen der Frau waren wie selbstverständlich in die Mitte der Szene, zeitlupenartig und sehr intensiv. Alles andere trat in den Hintergrund, sie und Jesus waren herausgehoben – ganz für sich und zugleich für alle sichtbar. Lautlosigkeit hatte sich in das nüchterne Diskutieren geschlichen und es für einen Moment besiegt. Was geschah, war unbegrenzt, hemmungslos still. Das Haus atmete einen Luxus, der nicht aufzuhalten war, es floss eine Schönheit, die ins freie Spiel gefunden hatte.

 

 

 

Und alle staunten. Die sonst alles in Pläne und Programme fassten, wirkten hilflos. Manche griffen, unsicher wie sie waren, auf Thesen rund um die soziale Gerechtigkeit zurück, die sie sich aus den Reden Jesu in mühevoller Kleinarbeit zurechtgezimmert hatten. Und sie kombinierten: Was sie hier an Liebe sahen, passte mit diesen Formeln nicht zusammen. Da wurden einige unwillig und sprachen untereinander: Was soll diese Vergeudung des Salböls? Man hätte dieses Öl für mehr als dreihundert Silbergroschen verkaufen können und das Geld den Armen geben. Und sie fuhren die Frau an.

 

Die Jünger hatten Furcht vor der ungebremsten Zärtlichkeit, die sie spielend in den Hintergrund gesetzt hatte. Jesus selbst jedoch schien das streichelnde Haar auf seinen Füßen genossen zu haben. Maria hatte gewagt, sich zu verlieren bei diesem Mann, der sich gefunden fühlte. Und es war still gewesen. In die wundersame Stille aber war erneut ein heftiges Diskutieren eingebrochen, welches forderte, das Leben klug zu portionieren. Wie würde Jesus reagieren? Würde er den Zauber des erlebten Augenblicks verraten? Jesus antwortete: Gerade weil das Leben Grenzen hat, muss man sich grenzenlos verlieren können. Lasst sie in Frieden! Was betrübt ihr sie? Sie hat ein gutes Werk an mir getan. Denn ihr habt allezeit Arme bei euch, und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun; mich aber habt ihr nicht allezeit.

 

 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

 

Musik dieser Sendung:

  1. Sonate pour harp – Lento, Germaine Tailleferre
  2. Bettina Linck, Au Matin, Marcel Tournier
  3. Bettina Linck, Moderato der Sonate c-moll, Giovanni Battista Pescetti


Sämtliche Musikaufnahmen: © Bettina Linck www.bettinalinck.de (Tonmeister: Robert Foede)

 

Buchtipp:

Georg Magirius, Traumhaft schlägt das Herz der Liebe – ein göttliches Geschenk. Mit Farbbildern von Marc Chagall, gebunden mit Schutzumschlag, Echter Verlag Würzburg, ISBN 978-3-429-03585-3, 14,90 Euro

Am Sonntagmorgen