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Vollkommene Geborgenheit
Was beim Beten geschieht
16.01.2022 07:35

Es ist wie Singen, das den Körper vibrieren lässt. Wenn ich bete, bin ich außer mir und doch aufs Höchste konzentriert. Das Lärmen um mich herum ist mit einem Mal weit weg, wie wenn ich unter Wasser tauche. Es ist so leise in mir, dass die Freude wiederum nach draußen will. Was beim Beten geschieht, ist nicht auf den Punkt zu bringen – selbst beim besten Willen könnte ich das nicht. Aber es geht dabei auch gar nicht so sehr um meinen Willen. Denn Beten zielt weit über mich hinaus. Und doch kehre ich ein bei mir, bin unterwegs zum Frieden. So unfassbar ist es, wenn ein Mensch nicht für sich bleibt. Ich wandere in eine Sphäre, die man vielleicht am ehesten noch beschreiben kann mit Bildern, die einander widersprechen.

 

Das Beten ist für Menschen, die die Welt vermessen, wenig wert. Selbst wenn einige besondere elektrische Impulse feststellen, kommt man seinem Charakter damit doch nicht auf die Spur. Auch führt das Beten zu keinem Muskelzuwachs, ist keine Disziplin bei den Olympischen Spielen. Wohl deshalb sagen manche: „Beten ist doch was für Schwache! Du wirst dabei nicht selbst tätig, sondern hoffst auf eine Macht, von der niemand genau sagen kann, was es mit ihr auf sich hat.“

Ich erlebe es anders: Das Beten ist ein Widerstand gegen jede Form der Enge. Ich bete, weil das Leben viel zu groß ist, als dass ich es für mich behalten könnte. Ohne zu Beten müsste ich das Leben krampfhaft minimieren. Aber indem ich mich an Gott wende, merke ich: Ich kann dem Leben seine Größe lassen.

Natürlich weitet sich mein Leben auch, wenn ich mich anderen annähere. Dann ist ein Abstand aufgehoben. Ich teile Gedanken und Gefühle mit Freunden. Aber das genügt mir nicht. Da ist ein Sehnen, das in eine andere Richtung weist: hoch hinauf, weit in die Tiefe, einfach dorthin, wo ich mich vollkommen geborgen fühle. Und dann darf alles sein: Schweigen, Summen, Seufzen, Singen, Schreien.

 

Das Beten ist ein Abenteuer. Es gleicht einer Reise in eine Gegend, die unerschlossen ist. In die Suchmaschine im Internet gebe ich manchmal einen Ort ein, an dem ich noch nie gewesen bin. Sofort sind da Fotos und Videos, die mir die gesuchte Landschaft zeigen. Das Beten dagegen gleicht einem Aufbruch in eine Gegend, von der es keine Bilder gibt.

Dabei haben Menschen zu allen Zeiten gebetet, in allen Kulturen, Ländern, Religionen. Und selbst wenn jemand sich zu nichts bekennt - kann er Worte Richtung Himmel schicken. Oder dorthin, wo er seine Lebensquelle vermutet.

So sehr das Beten verbreitet ist: Jedes Mal, wenn sich jemand zum unaussprechbar Lebendigen wendet, geschieht etwas, das nie zuvor gewesen ist. Denn wer könnte vorher sagen, wie ein Gespräch verläuft – und dann auch noch mit Gott!

Ich dringe ein in eine unfassbar ausgedehnte Landschaft. Und fühle mich dennoch nicht verloren, sondern geschützt.

 

Die Intimität des Betens ist kostbar. Deshalb hat Jesus empfohlen: Betet nicht dort, wo ihr gut gesehen werdet. Also nicht da, wo man weise über das Leben spricht, in den Schulen und den Synagogen. Das Beten soll kein Schauspiel sein. Wenn du betest, um anderen zu zeigen, wie gut du beten kannst, wirst du nichts von seinem Zauber spüren.

 

Wenn du aber betest, so geh in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir's vergelten. (Mt 6, 6)

 

Nur wie genau macht man das: Beten?

Anregungen anderer können hilfreich sein, schließlich gibt auch Jesus eine Anleitung. So habe ich als Kind in Gottesdiensten Worte gebetet, die der Pfarrer sprach. Das Vaterunser sprachen alle, das konnte ich recht früh. Auch habe ich für Gottesdienste schon mal die eine oder andere Fürbitte formuliert. Aber das ist für mich nicht das, was geschieht, wenn sich das Herz zu regen beginnt, es spürbar schlägt und das Leben einfach viel zu groß ist, als dass ich es für mich behalten könnte.

Als ich zwölf war, sagte jemand, der mit dem Beten Erfahrung hatte, das aber nicht an die große Glocke hing: „Es ist nicht kompliziert, vielleicht sogar das Einfachste überhaupt. Sprich Gott an. Und dann sage, was dir in den Sinn kommt oder was aus deinem Herzen kommt. Alles darfst du sagen. Es müssen keine Sätze sein. Und niemals musst du etwas sagen, wenn du dich an Gott wendest. Warte und lausche.“

Eines Abends, ich lag im Bett, wagte ich es. Ich startete die Expedition ins unbekannte Land, hinein in eine nicht fassbare Geborgenheit. Und indem ich es tat, konnte ich es. Denn ich merkte, wie ich dafür letztlich überhaupt nichts können musste.

Ich kann kein Protokoll dieser Begegnung vorlegen. Denn mein Beten empfinde ich nicht als etwas, das sich aufzeichnen, auswerten, diskutieren und dann in Ordner abheften ließe. Das Gefühl jedoch, das Leben nicht mit mir allein verbringen zu müssen, habe ich seitdem nicht lassen können. Die Erfahrung, aufgehoben zu sein, ist einfach zu schön! Allein schon deshalb, weil ich mich nicht vorbereite. Das Beten gleicht keinem Vokabellernen. Auch muss niemand vorher ein Zeugnis vorlegen, das bestätigt: Dieser Mensch ist stark und fähig genug, sich an Gott wenden zu dürfen.

 

Desgleichen auch der Geist hilft unsrer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich‘s gebührt; sondern der Geist selbst vertritt uns aufs beste mit unaussprechlichem Seufzen. (Röm 8, 26)

 

Vom geistreichen, unaussprechlichen Seufzen hat der Apostel Paulus in seinem Brief an die Römer geschrieben. Von Paulus ist bekannt: Er konnte große Teile der Thora, der Prophetenbücher und der Weisheitsschriften auswendig, darunter waren zig Gebete. Noch wichtiger aber muss es ihm gewesen sein, in wirklich jeder Lage vor Gott treten zu dürfen.

Ich darf beten, auch wenn der Kopf leer erscheint, mir keine schönen Worte einfallen, ich keinen klaren Gedanken fassen kann. Denn in dem Augenblick, da ich beten will, beginnt es wie von selbst zu beten.

Das können Seufzer sein, die nicht hörbar sind, weil sie nach innen gehen und gerade dadurch wiederum zu Gott. Was auch immer ich von mir gebe oder sich in mir bewegt: Wenn ich mich an Gott wende, habe ich das Gefühl: Mein Leben darf so sein, wie es eben ist. Meine Lust und Freude muss ich nicht mäßigen, nur um dadurch seriös und maßgerecht zu wirken. Aber ich brauche auch nicht krampfhaft lebenslustig sein, wenn sich in mir alles eng und klein anfühlt, ich kaum noch Luft bekomme. Und indem ich meine Enge zeige, spüre ich, wie es in mir allmählich wieder weiter wird. In der Gesellschaft Gottes muss ich nichts von der Vielfalt und Tiefe des Lebens leugnen, nur um dadurch vorzugeben, doch allein mit meinem Leben zurechtkommen zu können...

Das Beten kann so vieles sein, erlebe ich. Selbst wenn ich mir gar nicht vornehme „So, jetzt will ich einmal beten“, habe ich oft das Gefühl, dass ich bete. Denn auch beim Schwimmen, Tanzen, Rennen, Spielen erlebe ich, wie ich mich gewissermaßen in Richtung Himmel strecke. Tief horche ich in mich hinein, fühle mich aufgehoben, versinke in eine endlos starke Ruhe. Und das, obwohl ich mich doch bewege!

Bei aller Begeisterung fürs Beten dürfen die Nebenwirkungen nicht verschwiegen werden.

Wer zu Gott spricht, kann nicht damit rechnen, immerzu Verständnis zu ernten. Beten ist einfach, zugleich verwegen und besonders. Für manche aber sonderbar. Selbst Priester haben mit Menschen, die von Herzen beten, manchmal ihre Schwierigkeiten, weiß die Bibel. Und erzählt von Hanna. Viele lachten sie aus, denn sie konnte keine Kinder bekommen. Da wendet sie sich am Tempel zu Gott, ohne zu bemerken, wie Priester Eli sie betrachtet.

 

Und da sie lange betete vor dem Herrn, achtete Eli auf ihren Mund; denn Hanna redete in ihrem Herzen, nur ihre Lippen regten sich, und ihre Stimme hörte man nicht. Da meinte Eli, sie wäre betrunken. Und Eli sprach zu ihr: Wie lange willst du betrunken sein? Gib den Wein von dir, den du getrunken hast! Hanna aber antwortete und sprach: Nein, mein Herr! Ich bin eine betrübte Frau; Wein und starkes Getränk hab ich nicht getrunken, sondern habe mein Herz vor dem Herrn ausgeschüttet.

1. Samuel 1,12-15

 

Das Beten kann so lebendig sein, dass es Theologen nicht recht zu fassen kriegen. Priester Eli denkt an Drogen, die im Körper sind. Dabei handelt es sich bei Hannas Verhalten um eine Leidenschaft, die Gott sucht. Um ein Gefühl, dass viel zu groß ist, als dass sie es für sich behalten könnte. Der Bibel ist solch ein Beten überhaupt nicht peinlich. Es wird nicht sanktioniert, verkleinert, gleichgeschaltet, abgewürgt. Das zeigt sich auch daran, dass die Bibel noch ein anderes Gebet von Hanna überliefert. Und wieder geschieht Exzentrisches. Hanna verlässt also gleichsam ihr Zentrum, tritt aus sich heraus. Und doch wirkt sie ganz bei sich, zentriert. Und das ohne jeden Alkohol. Eine Frau ruft ihre Freude ungeschminkt in Richtung Himmel. Denn Hanna hat ein Kind bekommen. Die anderen können sie nicht mehr auslachen. Eine Mutter freut sich über ihren Sohn. Doch ist Hannas Gebet vielmehr, gleicht für mich dem Beten insgesamt. Das ist genauso für Menschen, die keine Kinder haben. In ihm finden Männer und Frauen mit und ohne Enkel eine Stimme, ja, dazu gehört laut Bibel auch das Seufzen der Tiere und aller Pflanzen, denen es nicht gefällt, dass andere sie bedrücken und unterdrücken. Das Beten ist eine Revolution, ein Klangrausch und ein Jubeln. Der Aufstand, der den Höhnischen die Stimme raubt. Aber die, die in der Tiefe waren, freuen sich und singen.

 

Der Bogen der Starken ist zerbrochen,

und die Schwachen sind umgürtet mit Stärke.

Der Herr macht arm und macht reich;

er erniedrigt und erhöht.

Er hebt auf den Dürftigen aus dem Staub

und erhöht den Armen aus dem Kot,

dass er ihn setze unter die Fürsten

und den Thron der Ehre erben lasse. ((1. Sam 2, 4ff in Auswahl, Lutherbibel 2017 und 1912)

 

Buchtipp:

Georg Magirius, Meine Bibel. Impulse fürs Hier und Jetzt, Coppenrath – Die Spigelburg, Münster 2022

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:
 

  1. Ursula Anders: Stimme, Pauken, Perkussion – Berliner Philharmoniker: Streicher – Wayne Darling: Baß – Michael Honzak: Schlagzeug – Sepp Dreissinger: Gitarre – Martin Haselböck: Orgel, Concerto for Ursula 1. Satz, Die langsame Einleitung und der lebhafte Teil, CD-Titel: Friedrich Gulda  Konzert für Violoncello und Blasorchester – Concerto for Ursula
  2. Ursula Anders: Stimme, Pauken, Perkussion – Berliner Philharmoniker: Streicher – Wayne Darling: Baß – Michael Honzak: Schlagzeug – Sepp Dreissinger: Gitarre – Martin Haselböck: Orgel, Tr. 7, Concerto for Ursula 2. Satz, Der kleine Marsch und die Vision, CD-Titel: Friedrich Gulda Konzert für Violoncello und Blasorchester – Concerto for Ursula
  3. Ursula Anders: Stimme, Pauken, Perkussion – Berliner Philharmoniker: Streicher – Wayne Darling: Baß – Michael Honzak: Schlagzeug – Sepp Dreissinger: Gitarre – Martin Haselböck: Orgel, Tr. 7, Concerto for Ursula 3. Satz, Die phantasieartige, begleitete Kadenz und das Husch-husch-aber-oho-Finale, CD-Titel: Friedrich Gulda Konzert für Violoncello und Blasorchester – Concerto for Ursula