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Ein paar hundert Krankenliegen vor dem Kanzleramt. Auf jeder ein großes Foto – und davor ein paar Schuhe. Die Turnschuhe hier vorn gehören dem Jogger, der so viel Freude daran hatte, morgens erst mal loszulaufen, den Wind zu spüren, tief durchzuatmen. Heute kann er nicht einmal mehr spazieren gehen. Die Highheels da gehören einer Businessfrau, die ein erfolgreiches Unternehmen aufgebaut hat. Jetzt ist sie kaum noch privat unterwegs – und wenn, dann in Mokassins. Und in den rosa Tanzschuhen hat die junge Frau mit den dunklen Locken einen Wettbewerb gewonnen. Heute sitzt sie im Rollstuhl. Ob sie je wieder tanzen wird, das steht in den Sternen.
Nichts geht mehr für diese Menschen. Post Covid hat sie ausgebremst. Ihr altes, bewegtes Leben ist erst einmal vorbei. Darum haben ihre Familien und Freunde im vorigen Jahr die Liegen aufgestellt. Sie wollten der Politik zeigen, dass viel mehr Einsatz nötig ist für die Finanzierung von Medizin und Forschung.
Die nutzlos gewordenen Schuhe erinnern mich aber auch an die vielen anderen, die nicht mehr mitkommen. Die Älteren, die sich nicht mehr zurecht finden in der digitalen Welt. Wie die Frau, deren Partner die Banküberweisungen am PC gemacht hat. Der sich um die Fahrkarten gekümmert hat und per WhatsApp mit den alten Kollegen Kontakt hielt. Jetzt, nach seinem Schlaganfall, fühlt sie sich hilflos und einsam. Der Computer auf seinem Schreibtisch kommt aus einer anderen Welt.
Die Schülerinnen und Schüler fallen mir ein, die es gewohnt sind zu chatten, zu zocken, zu zoomen. Nach all dem Homeschooling während Corona haben sie das Gefühl, nicht wirklich fertig zu sein mit der Schule. Sie haben vielleicht ein gutes Zeugnis, aber irgendwas fehlt und es ist nicht nur die Klassenfahrt und der Abiball. Viele sind noch immer traumatisiert, haben Essstörungen, brauchen Unterstützung - aber es mangelt an Therapieplätzen.
Und der Paketbote, der dauernd Überstunden macht und doch zu wenig hat, um auszukommen. Seit die Energiekosten gestiegen sind, seit die Lebensmittel immer teurer werden, geht auch bei ihm nichts mehr. Wenn er in die Stadt fährt, fallen ihm die leergeräumten Einkaufszentren auf und die Tankstellen, die längt schon kleine Einkaufszentren sind - was wird aus denen, wenn es keine Verbrenner mehr gibt? In der Nacht träumt er von Drohnen, die die Pakete bringen. Es ist ein Alptraum.
Es gibt zurzeit viel Grund für Verunsicherung und Zukunftsangst. Darüber müssen wir miteinander reden! Aussprechen, was bedrückt, hilft. Diese Erfahrung finde ich in der Bibel. Und in vielen ermutigenden Initiativen.
Das Jahr begann mit Stillstand. Trecker vor dem Reichstag, an Autobahnauffahrten, Brücken und Durchgangsstraßen. Aber still war es dabei nicht. Hinter dem Hupen der Traktoren spürte jeder die aufgestaute Energie. Wut, Angst und Ohnmacht. Nicht nur bei den Bauern, auch bei den Spediteuren, die sich angeschlossen hatten, den Gastronomen, den Fliesenlegern… So viel Angst, etwas zu verlieren. Angst, dass sich alles ändert. Angst, dass sich doch nichts ändert - trotz der Versprechen. Das Schlimmste, sagen sie, ist die Unsicherheit. Das Gefühl, keinen Einfluss zu haben, die eigene Zukunft nicht planen zu können. Da geht es dem Mittelstand wie den prekär Beschäftigten. Die Regierung spricht vom Deutschlandtempo, aber die Züge fallen aus.
Der Bau des ersten Flüssiggas-Terminals war ein großer Erfolg - ohne hätten wir im letzten Winter im Kalten gesessen. So wurde er zum Vorbild für das Deutschlandtempo, von dem der Kanzler spricht. Jetzt soll es gelingen, auch die anderen Veränderungsprozesse zeitnah zu gestalten - den ökologischen Umbau der Wirtschaft, Bürokratieabbau und Digitalisierung, Bundeswehr-, Bildungs- und Bahnreform.
Acht „Baustellen der Nation“ stellen die Journalisten Philip Banse und Ulf Buermeyer in ihrem neuen Buch vor. Sie beschreiben, „was wir jetzt in Deutschland ändern müssen“. Bis Ende des Jahrzehnts, bis 2035, 2045. Immer neue Zielangaben. Meist bleibt ja die viel beschworene Zeitenwende diffus – aber hier wird sie konkret. Das verstärkt den Druck. Hektik breitet sich aus. Ankündigungen überschlagen sich, Streichungen werden diskutiert. Am Ende wird gestrichen, was noch gar nicht beschlossen ist.
Politik müsse die Menschen mitnehmen, heißt es. Als werde die Politik nicht auch von Menschen gemacht. Menschen, die sich schlau machen und erklären müssen, Menschen, die sich irren. Aber das Vertrauen in die Entscheider ist auf dem Tiefpunkt. Die sogenannten Eliten werden gebasht, ja verachtet. Und während man sich im Netz in Großbuchstaben beschimpft, breitet sich Sprachlosigkeit aus. Braucht man denn einen Trecker, um endlich wahrgenommen zu werden?
Hinter den Hupkonzerten verschwinden die stillen Krisen. Angesichts des Stillstands von Bahnen und Bussen vergisst man leicht die Not derer, die kaum noch mobil sind. In Krankenhäusern werden ganze Abteilungen geschlossen, weil Pflegekräfte fehlen. Mehr als jede zweite Rentner*in muss mit weniger als 1240 Euro auskommen. Kinder lernen in Containern, weil die Renovierung der Schulen nicht vorankommt. Pisa, Migration, der demographische Wandel – die aktuellen Krisen haben lange vernachlässigte Probleme offengelegt. Die großen Sozialreformen der letzten Jahrzehnte – Pflegeversicherung, Arbeitsmarktreform, Kita-Ausbau, Gesundheitsreform – sie sind längst überholungsbedürftig. Und für die neuen wie die Kindergrundsicherung fehlt der Mut. Wer die nötigen Investitionen zusammenrechnet, kommt auf mehrere hundert Milliarden für Bildung, Wohnungsbau, Pflege… Zur Zeitenwende gehört auch eine Sozialwende. Es reicht nicht, den alten Pfaden zu folgen. Es kann nicht alles bleiben, wie es ist – auch der Sozialstaat nicht. Mit Ausbessern ist es nicht getan. Und mit Aufschieben schon gar nicht. Die alten Sicherheiten sind zerbrochen – das gilt es anzuerkennen. Wir brauchen Mut, uns neu aufzustellen. Es wird Zeit, dass wir miteinander reden. Statt uns in Großbuchstaben anzuschreien wie auf X oder Telegram.
Denn es hat Konsequenzen, wenn wir uns gegenseitig nicht wahrnehmen und nicht zuhören. Sowohl individuell als auch gesellschaftlich. Armut, Krankheit, Abstiegsängste - das alles wird bedrohlicher. Und die Gewalt nimmt zu. Gegen Polizei und Notfallsanitäter, an Schulen und auf dem Sportplatz, gegen Synagogen und Moscheen. Oft stehen dahinter gesellschaftliche Mechanismen, die bestimmte Gruppen ausschließen - Migranten vor allem oder Bürgergeldempfängerinnen.
Das fängt klein an: Wir sehen die anderen nicht, wir sehen sie nicht, wie sie wirklich sind. Wir halten ihre Sorgen nicht für legitim. Kein Wunder, wenn manche sich mit Gewalt Respekt verschaffen. Aber das führt nur zu weiterer Polarisierung. Und vertieft die Hoffnungslosigkeit.
Ich erinnere mich an die beiden, die von Jerusalem nach Emmaus unterwegs waren. Es waren Freunde Jesu, erzählt die Bibel. Jesus war vor ein paar Tagen gekreuzigt worden. Seitdem hatten sie das Gefühl, ihnen wäre der Boden unter den Füßen weggezogen. Sie waren wie erstarrt, hatten Angst vor dem Hass der anderen, Angst vor dem, was kommen würde. Und so hatten sie sich entschieden, zurück nach Emmaus zu gehen - in das Dorf, aus dem sie kamen. Zurück in die sichere Vergangenheit. Und sie waren nicht die einzigen. In diesen Tagen drohte die Jesusbewegung zu zerfallen. Jeder ging seinen eigenen Weg.
So wie diese beiden. Auf ihrem Weg nach Emmaus stößt ein Fremder zu ihnen. Er schließt sich ihnen an. Sie erzählen ihm von ihrem Verlust und er hört zu - obwohl sie ihn nicht wirklich wahrnehmen; sie sind gefangen in ihrer Verzweiflung. „Ihre Augen waren gehalten“, heißt es in der Bibel. Sie erkennen lange nicht, wer da mit ihnen geht. Bis die Sonne untergeht und sie zusammen einkehren. Am Tisch erst, beim Abendessen, als er das Brot bricht und teilt, da gehen ihnen die Augen auf - als öffnete sich die Tür in eine andere Gegenwart. Plötzlich wissen sie, der Gekreuzigte lebt. Er ist bei ihnen - mit ihnen unterwegs in ein neues, ein anderes Leben. Diese Erfahrung hat alles verändert - sie hat die Richtung verändert. Sie laufen den ganzen Weg zurück nach Jerusalem, zurück zu den anderen. Diese Erfahrung hat ihnen Kraft gegeben, noch einmal neu anzufangen – gegen den Hass und die Angst. Auch, wenn sie nicht wussten, was kommt.
Letzten Mittwoch hat die Fastenzeit begonnen. Es sind noch sieben Wochen bis Ostern und viele haben sich gedanklich auf den Weg gemacht. „Sieben Woche ohne Alleingänge“ sollen es sein, sagt die evangelischen Kirche. Sieben Wochen mit offenen Augen und Ohren. „Komm rüber“ heißt das Motto der Fastenaktion, die heute mit einem Gottesdienst in Osnabrück eröffnet wird. Sie lädt ein, uns zu öffnen - für die Hoffnung und füreinander.
So wie in Stuttgart. Da haben Ehrenamtliche und Gäste aus der Vesperkirche ihre Wohnungstüren füreinander geöffnet und ihre Lieblingsrezepte füreinander gekocht. Himmel und Erde. Gulaschsuppe. Schlesischer Mohn. Sie haben sich die Geschichten erzählt, die dazu gehören, sich besser kennengelernt und neue Freundschaften geschlossen.
„Kleine Inseln der Kohärenz haben die Kraft, ein ganzes System in eine höhere Ordnung zu heben“, schreibt der Organisationsentwickler Otto Scharmer. Da entsteht eine neue Energie, die uns zusammenschließt und weiterbringt. Ja, es gibt sie, die Projekte und Initiativen, in denen das Neue im Keim schon sichtbar wird. Es fängt damit an, dass wir wahrnehmen, was ist und mit welchen Menschen wir leben – und wer an den Rand gedrängt oder vergessen wird. Und dass wir ins Gespräch kommen. So wie im Netzwerk „Freiberg für alle“, das die Kundgebung „Gesicht zeigen“ gegen Rechtsextremismus mit vorbereitet hat.
„Wenn du schnell sein willst, geh alleine“, heißt es in einem Sprichwort. „Aber wenn du weit kommen willst, geh mit anderen zusammen.“ Zukunft gewinnen wir nur miteinander. Wenn wir die Einsamkeit durchbrechen, rausgehen und einander zuhören. Auf den vielen Demos gegen Rechtsextremismus konnte man das spüren. Da war eine Kraft, die nach vorn trug und den Stillstand überwand. „Die Demos laden unsere Akkus auf“, sagt eine Aktivistin, „mich beflügelt das richtig.“
Wie bei den Männern von Emmaus: Die Begegnung mit Jesus verwandelt ihre Trauer in Mut. Sie gehen zurück nach Jerusalem. Und später gemeinsam mit den anderen auf die Straße. Die Menschen, die ihnen gestern noch so wichtig waren - die Randsiedler, die Kranken und die Kinder - die würden sie auch morgen brauchen. Jetzt ging die Arbeit erst richtig los. So wie bei uns – nach den Demos.
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
1. Knockin‘ On Heaven’s Door
2. Bridge Over Troubled Water
3: Streets of London