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Dem Himmel so nahe
Verrückte Kirchtürme
13.03.2022 07:35

Überall finden wir sie, in Dörfern und in Städten: die Kirchtürme. Sie sind so etwas wie ein Fingerzeig in den Himmel. Aber daneben erzählen sie nicht selten ungewöhnliche Geschichten.

So auch der Turm der Brüssower Feldsteinkirche St. Sophien im Norden Brandenburgs. Von außen sieht er wie viele andere Kirchtürme aus. Aber innen beherbergt er eine einzigartige Sammlung, wie die Kunsthistorikerin Sylvia Müller-Pfeifruck weiß:

 

In der Turmhalle Brüssow hängen 65 Kreuze, Gedächtniskreuze für im Zweiten Weltkrieg Gefallene. Es handelt sich überwiegend natürlich um Männer, und zwar junge Männer, und auch eine Frau ist dabei. Die Kreuze datieren in etwa aus der Zeit zwischen September 1941. Und kurz nach Kriegsende, glaube ich, ist auch noch eins entstanden.

 

Die Gedächtniskreuze im Turm der Brüssower Kirche ließ ihr damaliger Pfarrer für die im zweiten Weltkrieg Gefallenen der kleinen uckermärkischen Stadt anfertigen. Später, zu DDR-Zeiten, wurde er Bischof der Mark Brandenburg und sein Name in ganz Deutschland bekannt: Albrecht Schönherr. Zwei Jahre vor Beginn des Zweiten Weltkriegs nahm er seine Seelsorgetätigkeit in Brüssow auf.

Ab September 1941 kamen dann die Meldungen von den ersten Kriegstoten aus dem Ort und der junge Pfarrer überlegte, wie er darauf reagieren könnte.

 

Er hat beschlossen, für jeden Gefallenen ein Kreuz anfertigen zu lassen, dieses Kreuz in die Turmhalle zu hängen und damit den Hinterbliebenen einen Raum zu geben für das Gedenken und für die Trauer.

 

Denn die Ehemänner, Väter und Brüder waren weit entfernt von ihrer Heimat gestorben. Offen durften sie nicht beklagt werden. Das hatte Adolf Hitler untersagt. Als im September 1940 der Wunsch geäußert wurde, Gedächtnismale zu errichten für die im Zweiten Weltkrieg Gefallenen, verbot er es. Er vertröstete die Menschen auf die Zeit nach dem glorreichen Sieg, der dann aber ausblieb. Bis dahin sollte alles unterlassen werden, was Trauer und Klage über die deutschen Kriegstoten zum Ausdruck brachte. Darüber setzte sich Albrecht Schönherr mit den Gedächtniskreuzen hinweg.

 

Die Kreuze sind aus Eichenholz gefertigt. Sie sind etwa 38 cm groß und 25 cm breit. Und sie besitzen wirklich alle dieselbe Form. Und dann ist auf ihnen eigentlich nur der Name eingeschnitzt und die Lebensdaten. Die besitzen die Form eines Kriegsgräberkreuzes und sie wurden kombiniert mit einer kleinen Konsole unten am Fuß, …

 

… auf die eine Kerze gestellt und ein Kranz gehängt werden konnte. So machte Albrecht Schönherr den Brüssower Kirchturm zum Friedhofsersatz für die Angehörigen der Kriegstoten der kleinen Stadt.

 

Seine Gedenk-Gottesdienste hat er dann zweiteilig gestaltet, also erst in der Kirche den Gottesdienst und anschließend ging man, als würde man zum Grab gehen, zu dem Kreuz, auf dem dann eine Kerze brannte und an dem dann meistens auch ein Kranz hing. Und dort erfolgte dann der zweite Teil der Trauerveranstaltung.

 

Manche Kirchtürme in Brandenburg sind mehr als nur ein Ort, an dem die Glocken läuten. Sie erzählen Geschichten. Wie der Kirchturm von Brüssow – ein Ort der Trauer über die vor über siebzig Jahren im Zweiten Weltkrieg Gefallenen der Stadt. Einen Verlust ganz anderer Art symbolisiert ein Kirchturm, der viele Kilometer entfernt in der Niederlausitz, im Dorf Pritzen, steht.

 

Heute sieht man nur noch diesen Glockenturm, diesen hölzernen. Ja, und ganz Fremde, die gucken sich das an, ja, gehen auch mal hier rauf. Ja, der stand schon immer hier, nicht, wie er aussieht, der stand schon immer hier, so ungefähr, nicht.

 

Erklärt Reiner Hanisch auf dem Kirchplatz in Pritzen. Doch der Schein trügt: Der hölzerne Kirchturm mit seiner ziegelgedeckten Spitze kam erst 1993 nach Pritzen. Und zwar per Hubschrauber – herübergeflogen vom Dorf Wolkenberg. Wolkenberg musste damals dem Tagebau weichen, wie Reiner Hanisch erzählt, der selbst viele Jahre im Braunkohleabbau tätig war. Und was geschah mit Pritzen?

 

78 wurde ja der Beschluss gefasst, damals von der Kreisverwaltung, vom Bezirksamt hier sozusa-gen, dass Pritzen ja überbaggert werden sollte. Von da an ging es immer sukzessive immer wieder mal Jahr für Jahr, dass hier Einwohner dann ausgezahlt wurden, weggezogen sind, die Häuser weggerissen wurden, die letzten leeren Häuser wurden dann vom Bergbau sogar genutzt als Werkstätten, als Öllager und was nicht alles.

 

Das Dorf wurde immer verlassener. Von den einst 400 Bewohnern hielten am Ende nur noch dreißig aus und warteten darauf, dass das Dorf endgültig der Braunkohleförderung weichen muss. Die meisten Häuser standen da nicht mehr. Und die Pritzener Kirche?

 

Ja, man hat schon Ende der 80er Jahre durch couragierte Menschen darauf gedrungen, diese Kirche zu erhalten. Und dann hat man schon angefangen, Ende der 80er Jahre diese Kirche dann so langsam abzutragen und bei Vetschau irgendwo einzulagern. Da war noch gar nicht mal die Rede, von welchem Standort später mal die Kirche wieder stehen sollte.

 

Dem Braunkohletagebau mussten damals ganze Ortschaften weichen. Und mit ihnen auch manche Kirchen samt Turm und Glocken. So erging es auch der Pritzener Kirche: Sie wurde abgetragen und an anderer Stelle eingelagert. Für einige Jahre, bis sie nach dem Ende der DDR an anderer Stelle wieder aufgebaut wurde und zwar in Spremberg. Dorthin waren die Wolkenberger gezogen, nachdem sie ihr Dorf Anfang der 1990er Jahre verlassen mussten. Am neuen Standort sind außen an der Kirche noch die Nummern auf den Feldsteinen zu sehen, die bei ihrer Demontage angebracht wurden, damit sie eines Tages wieder so aufgebaut werden konnte, wie sie einmal ausgesehen hatte.

 

Jeder Stein, jeder Dachziegel, jeder Balken ist hier nummeriert worden Ende der 80er Jahre, noch zu DDR-Zeiten. Und dementsprechend ist sie wirklich original wieder als Blickfang wieder da, wie sie da stand in Pritzen. Sie ist ja über 570 Jahre alt eigentlich und steht aber erst 24 Jahre hier.

 

Eine Kirche kann wandern. In Spremberg können nun also die dorthin umgezogenen Wolkenberger die ehemalige Pritzener Kirche nutzen. Und da, wo die Kirche zuvor stand, in Pritzen, steht nun der hölzerne Kirchturm aus Wolkenberg. Bei der Überbaggerung von Wolkenberg - wie es in der Bergmannssprache heißt - war auch die Kirche abgerissen wurden. Der Kirchturm mit Balken aus dem 15. Jahrhundert sollte erhalten werden und brauchte einen neuen Platz. Und so wurde er mit dem Hubschrauber auf den Kirchplatz von Pritzen gebracht. Denn Pritzen musste am Ende doch nicht dem Tagebau weichen. Kleiner geworden, mit weniger Einwohnern, besteht das Dorf noch immer. Und der Wolkenberger Kirchturm ist nun die Dorfkirche. An das alte Wolkenberg erinnert heute - inmitten einer neu geschaffenen pflanzen- und tierreichen Landschaft - nur noch ein Kreis von Gedenk-Steinen. Auf ihnen ist festgehalten, …

 

… dass es hier einen Konsum gab, dass es hier ein Gut gab, dass es hier eine Gaststätte gab, dass es hier die Freiwillige Feuerwehr gab, dass es eine Schule gab. Einige Wege, die aus dem Kreis rausgehen, die deuten an, wo die Wege früher mal hingingen, nämlich zu den Nachbarorten, sprich Papproth oder in den Ort Kausche, denn den Ort Kausche gibt es ja auch nicht mehr, der ist auch durch diesen Tagebau überbaggert worden oder rüber nach Spremberg oder Stradow, also Stradow ist auch weggekommen.

 

So erinnert in Pritzen ein eingeflogener Kirchturm an das Verschwinden ganzer Dörfer und die Rettung einer Kirche. Wieder eine andere Geschichte - auch die Geschichte eines Verlustes - könnte der Kirchturm der Versöhnungskirche im Berliner Wedding erzählen. Aber es gibt ihn nicht mehr. An seiner Stelle erinnert die Turmuhr, die erhalten geblieben ist, an die Zeit damals, als die Mauer noch stand – und eine Kirche mitten auf dem Todesstreifen. Die Versöhnungskirche stand seit 1945 an der Nahtstelle der politischen Systeme im sowjetischen Sektor, angrenzend an den französischen. Ab 1949 gehörte sie zum Staatsgebiet der DDR. Ihr Kirchenschiff streifte den Prenzlauer Berg. Die Eingangsfront war dem Wedding zugewandt. Und der Bürgersteig davor gehörte zu West-Berlin.

So stand die Kirche dem Mauerbau im Wege. Die Gemeinde durfte sie nicht mehr benutzen und ihr Pfarrer musste mit seiner Familie am 26. Oktober 1961 in den Ostteil Berlins ziehen. Wütend darüber, stieg sein Sohn Jörg Hildebrandt an diesem Tag auf den Kirchturm, um die Uhr anzuhalten und damit ein Zeichen zu setzen.

 

Das muss so halb elf herum gewesen sein am Vormittag. Und dann dachte ich mir, nein halb elf, das ist keine Uhrzeit, machst Du auf, pathetisch, wie du bist, machst du auf fünf vor zwölf, nicht wahr. Achtung Leute, vergesst uns nicht, no more time to loose, ja, also keine Zeit zu verlieren. Und so sind die Zeiger dann auch unterschiedlich lang auf dieser Stellung geblieben.

 

Jörg Hildebrandt hat damals im Jahr des Mauerbaus die Uhr der Versöhnungskirche aus Protest auf fünf vor zwölf gestellt. Er wusste, wie das geht, denn für ein kleines Taschengeld wartete er schon einige Zeit die Uhr. Genau genommen die vier Uhren. Denn an den vier Seiten des Turms gab es jeweils eine. Und so war der Protest in Form einer Zeitanzeige von allen vier Himmelsrichtungen aus zu sehen. Auch in Ostberlin. Zur Freude von Jörg Hildebrandt. Und zum Ärger der DDR-Regierung.

 

Die Behörden, die Organe, wie man so schön sagte, die haben sich dann bald darüber aufgeregt - später hab ich erfahren, dass da auch Akten drüber angefertigt wurden - und haben zum Teil die Uhren umgestellt, aber das wohl auch ziemlich rabiat gemacht, sodass als 1985 vor der Sprengung der Kirche Uhren und Glocken gesichert wurden, festgestellt wurde, dass da allerhand schon in Bruch geraten war.

 

Brutal zu Bruch ging auch die Kirche, als sie 1985 gesprengt wurde. Nach dem Ende der DDR wurde das Kirchengrundstück Teil einer begehbaren Erinnerungslandschaft. Auch die Turmuhr

sollte Teil des bewussten Erinnerns an die deutsch-deutsche Geschichte werden, und damit an das damit zusammenhängende Leid und das geschehene Unrecht. Zur Unterstützung ihrer

Instandsetzung konnten einzelne Minuten von 12 Stunden erworben werden. Jörg Hildebrandt ließ sich das nicht zweimal sagen.

 

Klar hab ich mir meine Minuten gekauft, von fünf vor zwölf bis zwölf. Und zwar für meine Familie. Also: Die Jüngste bekommt fünf vor zwölf, dann kommt mein Sohn Jan, vier vor zwölf, meine Tochter Frauke, drei vor zwölf. Und dann meine liebe Frau Regine zwei vor zwölf. Und ich bin mit eins vor zwölf dann dran. Ja, hab ich gekauft. Und ich finde es eine wunderbare Idee, die Uhr doch wieder in Gang zu setzen, ihr wieder Leben zu schenken.

 

Zum 125. Gründungsjubiläum der Versöhnungskirche, am 28. August 2019, ist die rekonstruierte Kirchturmuhr, nicht weit entfernt vom alten Standort der Kirche, aufgestellt worden: In der Nähe des Nordbahnhofs, im Foyer des Gebäudes, in dem Diakonie Deutschland-Brot für die Welt tätig ist. Jörg Hildebrandt freut sich darüber, denn für ihn wird damit eine wichtige Botschaft vermittelt.

 

Vor allen Dingen macht doch das vitalisierte Uhrwerk deutlich, dass Geschichte, auch schlimme Geschichte, keine Ewigkeiten kennt, ja, irgendwann ist sie vorüber. Auch wenn ich selber nie dran geglaubt habe, also beispielsweise, dass die Mauer fällt, doch, irgendwann ist es so weit.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

 

 

Musik dieser Sendung:
 

  1. William Ackermans, Garden, CD-Titel: Past Light
  2. William Ackermans, Three Observations of One Ocean, CD-Titel: Past Light
  3. William Ackermans, Night Slip, CD-Titel: Past Light
  4. William Ackermans, Ventana, CD-Titel: Past Light