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Wie gut, das Jahr endet mit einer Verschnaufpause: Silvester am Sonntag – das gibt die Chance, 2023 etwas ruhiger ausklingen zu lassen. Ja, da geht etwas zu Ende. Wie kann und will ich es ziehen lassen? Über die Kunst des Loslassens will ich nachdenken. Diese Kunst ist ja auch an anderen Stellen des Lebens gefragt - bis in den Glauben hinein.
Schaut man zurück auf die Nachrichtenlage des Jahres 2023, so drängen sich die Kriege auf. Das macht mich tief traurig: so viele Opfer an Leib und Seele. Dabei hätten eigentlich andere Themen die gemeinsame Kraft der Menschheit gebraucht: die Bekämpfung von Not und das Kümmern um die Umwelt, namentlich das Klima. Deutschland bekam in diesem Jahr zwar eine Verschnaufpause von Hitze und Dürre. Aber andere Regionen hat es hart getroffen: wochenlange Brände im Mittelmeerraum und in Kanada. Erst Dürre, dann Überschwemmung in Ostafrika und Österreich. Die weltweit unterschiedliche Situation darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es am Ende ein Klima für die ganze Erde gibt, bei dem alles mit allem zusammenhängt.
So unterschiedlich das Klima in diesem Jahr regional war, so verschieden ist auch das Leben der einzelnen Menschen verlaufen. Für manche war 2023 ein großartiges Jahr, das ihnen persönlich viel Positives beschert hat. Anderen hat dieses Jahr Schicksalsschläge zugefügt. So geht jede und jeder auf die eigene Weise aus diesem Jahr heraus. Manche tun das voller Dankbarkeit, andere dagegen sind niedergeschlagen.
Eines gilt jedoch für alle: Das Jahr geht. Es lässt sich nicht aufhalten. Und es wird auch nicht wiederkommen. Man muss es loslassen. Silvester ist nicht der einzige Moment, in dem die Kunst des Loslassens gebraucht wird.
Es geht um die Kunst des Loslassens. Es gibt das kleine Loslassen, das große und das ganz große. Leicht ist keines von den dreien. Bei dem kleinen Loslassen denke ich an eine Frau, die sich monatelang auf ihren Winter-Urlaub freut. Doch eine Woche vorher verletzt sie sich das Bein. Sie wird den Urlaub nicht antreten können. Es fällt ihr wahnsinnig schwer, aber sie muss diesen Plan aufgeben - loslassen.
Beim großen Loslassen denke ich an den Mann, der sein Leben lang gesund und stark war. „Nie im Krankenhaus“, sagt er stolz. Aber nun hat er eine heftige Diagnose bekommen. Er wird leben, aber nicht mehr so wie vorher. Er muss vorzeitig aus dem Beruf heraus, muss sich schonen und viel Zeit mit medizinischer Behandlung verbringen. Das Selbstbild des starken Mannes muss er loslassen. Nun ist er ein kranker Mann. Ich denke an das Paar, das sich seit vielen Jahren Kinder wünscht – aber sie kommen nicht. Trotz aller Versuche und medizinischer Hilfe. Irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem die beiden ihren sehnlichen Wunsch loslassen müssen – weil er offenbar nicht erfüllbar ist.
Es gibt noch viele andere große Loslass-Momente im Leben. Und es gibt das ganz große Loslassen. Dazu später mehr. Im Kleinen wie im Großen ist meine Erfahrung: Wer etwas Wichtiges loszulassen hat, ist erst einmal beunruhigt. Denn da verschwindet ein Teil des bisherigen Lebens. Damit gehen Menschen ganz unterschiedlich um. Manche wollen es nicht wahrhaben. Sie klammern sich an das, was bislang war. Sie tun so, als wäre es noch da. Andere wollen das Bisherige zerstören. Sie reden es schlecht oder machen es kaputt. Sie gehen im Zorn und verbittert. Als helfe es ihnen beim Loslassen, verbrannte Erde zu hinterlassen. Manche verlieren vorzeitig das Interesse an dem, was sie zu verabschieden haben. Sie werden antriebsschwach und distanziert. Innerlich sind sie schon weg. Viele wollen das, was sie bislang wichtig fanden, mit Anstand beenden. Mit preußischer Disziplin sehen sie dabei von ihren persönlichen Emotionen ab. Es gibt unterschiedliche Wege loszulassen. Wie kann man das gut hinbekommen?
Wie geht gutes Loslassen? Mir scheint: Dafür nimmt man bewusst wahr, was mit einem gerade geschieht. Ich erlaube mir, alle Gefühle und Gedanken zu haben: Mal ist die Wehmut da, mal kommt vielleicht Wut dazu. Ich bin traurig und dankbar. Ich freue mich an dem, was war, und spüre intensiv die Sympathie zu den bisherigen Beteiligten. Vielleicht bin ich sogar erleichtert, dass etwas vorbei ist. Ich kann mir auch Sorgen machen um das, was ich zurücklasse. Vielstimmig sind die Gefühle beim Loslassen. Wenn man diese Vielfalt der Gefühle durchlebt hat – und das kann dauern –, dann kann man sie hinter sich lassen. Man wird frei für das, was vor einem liegt: ein neues Jahr, eine neue Aufgabe, ein neuer Lebensabschnitt, ein neues Lebensziel – jedenfalls etwas Neues und Unbekanntes.
Wer sich im Leben von Gott begleitet weiß, wird beim Loslassen auch auf Gott schauen. Und hoffentlich erleben, dass Gott einem in allem zur Seite steht. Wenn die Wut kommt, wird Gott sie ertragen, auch wenn sie sich gegen ihn selbst richtet. Wenn sich die Trauer einstellt, wird Gott mittrauern und trösten. Wenn Einen Dankbarkeit erfüllt, wird Gott sie spüren und mögen. Zuletzt wird Gott Hand in Hand mit einem die ersten Schritte in die Zukunft tun. Darauf vertraue ich.
Loslassen – diese Aufgabe muss jede und jeder im Verlauf des Lebens bewältigen. Manche mehr, andere weniger. Loslassen ist ein seelischer Kraftakt, zugleich eine Therapie, um wieder lebensfroh zu werden. Für gläubige Menschen liegt darin auch eine geistliche Chance, ein Schritt auf Gott zu. Dazu später mehr, wenn es um das ganz große Loslassen geht.
Aber zunächst beschäftigt mich die Frage: Gibt es beim Loslassen ein Zuviel, das ich nicht mehr verkraften kann? Früher habe ich mich gefragt, was ich alles loslassen könnte. Und ab wann ich nicht mehr leben wollte. Wenn ich blind oder taub würde, wollte ich dann noch leben? Warum nicht? Denn ich kenne Menschen, die sind blind oder taub, die haben zu einem großartigen Leben gefunden. Und wenn ich meine Familie verlöre, wollte ich dann noch leben? Hoffentlich ja, denn andere Menschen haben es vorgemacht. Sie haben sich nach solchen oder anderen Verlusten durch das Tal der Tränen gekämpft und einen Weg gefunden, mit der Trauer zu leben. Dasselbe gilt, wenn um einen herum Krieg herrschte oder großer Mangel. Ich kann kein Minimum definieren, ohne dass ich nicht mehr leben wollte oder könnte. Menschen können ungeheuer stark und genügsam sein. Weniges müssen wir wirklich zum Leben haben. Eines allerdings kann ich nicht loslassen: die Hoffnung auf einen Sinn im Leben.
Was kann man loslassen und was nicht? In der Bibel erzählt Jesus von einem Mann, der sehr erfolgreich ist. Er ist Landwirt (1) und fährt eine überaus gute Ernte ein. Seine Felder tragen so viel Frucht, dass er auf Jahre hinaus genug hat. Da sagt er sich: „Liebe Seele, du hast einen großen Vorrat für viele Jahre; habe nun Ruhe, iss, trink und habe guten Mut!“ Ich finde den Mann bemerkenswert bescheiden. Nach modernen ökonomischen Regeln müsste er den Überschuss investieren, um in den Folgejahren den Ertrag zu steigern. Doch das tut er nicht. Er ist mit dem, was er hat, zufrieden und hat damit genug. Ich wünschte, dieses Genug wäre heute stärker verbreitet, denn unsere Gesellschaft folgt an vielen Stellen eher dem Prinzip des „Immer-Mehr“. Inzwischen erkennen viele Menschen: Dieses Prinzip kann auf Dauer nicht funktionieren, denn es überfordert die Erde. Die Ressourcen sind endlich. Außerdem ist das Prinzip des Immer-Mehr auch für einen selbst gar nicht gesund. Es drängt einen, auch aus dem eigenen Leben immer mehr herauszupressen. Das gilt nicht nur beruflich, sondern auch für die Freizeit, denn die soll nach dem Prinzip des Immer-Mehr ebenfalls immer mehr Erlebnis bieten. Ich merke – auch bei mir selbst: Das ist ebenfalls ein Fall für die Kunst des Loslassens. Manche folgen dem Prinzip des Immer-Mehr nicht. Die einen freiwillig, die anderen unfreiwillig. Zu den Unfreiwilligen gehören diejenigen, die mit immer weniger Mitteln auskommen müssen. Es wäre zynisch, diesen Menschen das Loslassen zu empfehlen. Das ist ein wichtiger Punkt beim Loslassen. Es darf nicht als Vorwand genutzt werden, um anderen den sozialen Abstieg schmackhaft zu machen. Andere verabschieden sich freiwillig aus dem Prinzip des Immer-Mehr.
Viele stammen aus gutsituierten Kreisen. Sie verkleinern bewusst ihre Ansprüche und ihr Eigentum. Weil sie gemerkt haben: Mit weniger Stress und weniger Besitz spüren sie mehr Lebensqualität. Dieses Gefühl beschreibt ein vielzitiertes Lied der Gruppe Silbermond. Sein Titel lautet „Leichtes Gepäck“. Es schildert, wie wieviel einfacher und schöner es ist, im Leben mit weniger unterwegs zu sein.
Der Song empfiehlt, vieles loszulassen, um besser leben zu können. Dann macht man sich weniger Sorgen um das, was man hat. Man lebt freier, konzentrierter, bewusster und tiefgründiger. Neu ist das nicht. Schon in der klassischen Philosophie haben sich Menschen darüber Gedanken gemacht. Die Philosophenschule der Stoa kam zu dem Ergebnis: Die Dinge, die wir besitzen, haben nur relativen Wert. Das Lebensglück hängt nicht von Reichtum oder Erfolg ab. Entscheidend ist die innere Einstellung. Stoisch im eigentlichen Sinne ist jemand, der innerlich gelassen ist, weil ihn kaum etwas umtreibt, kaum ein Verlust schmerzt, kaum ein Mensch verletzen kann. Ähnliche Gedanken gibt es auch in anderen Religionen. Allen voran im Buddhismus. Der rät: Mache dich unverletzbar und rein, indem du dich von allem Irdischen löst. Konzentriere dich ganz auf dein spirituelles Sein. Das ist der Weg, eins zu werden mit dem Göttlichen. Das Prinzip Loslassen reicht weit in die religiösen und seelischen Tiefen des Menschen hinein. Damit nähere ich mich dem, was ich zu Beginn „das ganz große Loslassen“ genannt habe. Und ich kehre noch einmal zu der biblischen Geschichte vom erfolgreichen Landwirt zurück. Der Kornbauer ist glücklich und zufrieden mit seiner überreichen Ernte. Er sichert sie in Scheunen und denkt, er habe nun ausgesorgt. Doch die Geschichte endet anders – und zwar mit dem Satz: „Aber Gott sprach zu ihm: Du Narr! Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern; und wem wird dann gehören, was du angehäuft hast? So geht es dem, der sich Schätze sammelt und ist nicht reich bei Gott.“
Was hat der Kornbauer falsch gemacht? Ihm war es genug, nach irdischen Maßstäben reich zu sein. Er hat nicht gefragt: Wie kann ich das werden, was die Bibel so nennt: „Reich sein bei Gott“? Dorthin hätten ihn drei Schritte geführt. Der erste Schritt wäre gewesen, für die Ernte zu danken. Ohne Gottes Schöpfung wächst nichts, bei aller eigenen Mühe. Als zweiten Schritt hätte der Landwirt Mitgefühl empfinden können. Dann hätte er seinen Überschuss geteilt mit denen, die Not leiden. Nun der dritte Schritt: Sein Leben in Gottes Hand legen, sich also ganz und gar auf Gott verlassen. Das ist alles andere als leicht, denn es hat tiefgreifende Folgen: Man macht sein Leben nicht mehr abhängig von Arbeit, Familie, Freundeskreis, Hobbies und allem anderen. Man wird fähig und bereit, dies alles loszulassen. Das ist das ganz große Loslassen: Keine Angst mehr zu haben um sich, um sein Leben, um die Welt.
Wer das wagt, erlebt ein Paradox, das Jesus so beschrieben hat: „Wer sein Leben gewinnen will, der wird es verlieren. Wer sein Leben verliert – sprich: loslässt -, der wird es gewinnen.“ (2) Was bedeutet das konkret?
Jesus hat die Kunst des Loslassens so beschrieben: „Wer sein Leben gewinnen will, wird es verlieren. Wer sein Leben verliert, wird es gewinnen.“ Dieser Satz umschreibt für mich das ganz große Loslassen. Wer es erreicht, erlebt eine nie gekannte Lebensfreude, ein Leben ohne Angst, in Zuversicht auf Gott. Aber dahin zu kommen ist nicht leicht, denn es mutet einem zu, alles im Leben wirklich Gott anzuvertrauen. Und das ohne wirklich gewiss zu sein, dass Gott einen dann auch wirklich auffängt. Diese geistliche Zumutung hat Dietrich Bonhoeffer in prägnante Sätze gefasst:
„Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein.“ (3)
Bedeutet das: Alles Irdische wird einem dann egal? Wenn das so wäre, könnte man dem christlichen Glauben zurecht vorwerfen, er vertröste die Menschen nur auf bessere Zeiten im Himmel. Und damit spiele er denen in die Karten, die andere ausbeuten wollen. Doch das trifft nicht zu. Das erläutert das zentrale Gebet aller Christen, das Vaterunser. In der Mitte dieses Gebets steht die Bitte: „Dein Wille geschehe.“ Das ist ein Kernsatz für alle, die loslassen wollen und sich in Gottes Hand begeben. „Dein Wille geschehe.“ Damit könnte dieses Gebet zu Ende sein, wenn alles andere wirklich egal wäre. Ist es aber nicht. Weitere Bitten folgen und die führen aus, was offensichtlich Gottes Wille ist. Da heißt es: „Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.“
Darin zeigt sich der Wille Gottes. Den soll man nicht loslassen. Im Gegenteil, für den setzen sich Christen ein: für das tägliche Brot für alle, für die Vergebung von Schuld, für die Erlösung vom Bösen. Das sind nur drei kurze Bitten. Doch bei näherem Hinsehen verändern sie die Welt, wenn sie in Erfüllung gehen. Dafür ist im alten Jahr einiges liegen geblieben – und im neuen Jahr vieles zu tun. Das ganz große Loslassen hat also durchaus auch etwas mit Anpacken zu tun.
Heute, am Silvestertag, ist jedoch erst einmal das kleine Loslassen angesagt – und das mit einem tiefen Durchatmen: Sei Gott befohlen, altes Jahr!
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
1. „Letting go“ von Sari Schorr
2. „Ordinary Life“ von Sari Schoor
3. „Trouble“ von Lizz Wright
4. „Leichtes Gepäck“ von Silbermond
5. „Get together“ von Lizz Wright
6. „Singin in my soul“ von Lizz Wright
Literatur dieser Sendung:
1. Lukas 12,16-21
2. Matthäus 10,39 u.a.
3. Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, DBW Band 8, Seite 30