In nur fünf Jahren ist Notre-Dame von Paris aus der Asche auferstanden. Ihre Rekonstruktion ist eine Aneinanderreihung von kleinen Wundern.
Sendung zum Nachlesen:
"Eine Stadt findet ihr Herz wieder." Das hat Laurent Ulrich gesagt, der Erzbischof von Paris. Er meint damit die Kathedrale Notre-Dame, die übermorgen, am Zweiten Advent wiedereröffnet wird.
Vor fünf Jahren hat Notre-Dame gebrannt. Die Bilder, wie der Dachstuhl in Flammen stand, der Vierungsturm einstürzte und durch die Decke der Kirche brach, gingen um die Welt. Damals hat kaum jemand geglaubt, dass die Kathedrale so schnell wieder auferstehen könnte. Schon wenige Tage nach dem Brand trafen Spenden aus aller Welt ein. Inzwischen sind 846 Millionen Euro gespendet. Alle Restaurationsarbeiten sind bezahlt.
Da kann man nur staunen. Hinzu kommt: Frankreich ist eine laizistische Republik. Staat und Religion sind strikt getrennt. Notre-Dame gehört zwar dem Staat. Aber rein als Kulturgut und Wahrzeichen. Auch die Christen in Frankreich halten sich bezüglich ihrer Glaubenspraxis eher zurück. Die Zahl der Gottesdienstbesucher in unserem Nachbarland gehört zu den niedrigsten der Welt. (1)
Und jetzt erlebt die Grande Dame der Kirchen eine leibhafte Wieder-Auferstehung. Nein, sie ist nicht nur repariert worden. Sie wurde gereinigt vom Ruß der Jahrhunderte und erstrahlt in nie dagewesenem Glanz. Je mehr ich mich mit der Geschichte ihres Wiederaufbaus beschäftigt habe, desto mehr war ich fasziniert und berührt. Denn diese Geschichte ist wie eine Aneinanderreihung von kleinen Wundern. Naturwissenschaftlich fundierte Wunder.
Ein Heer von 2000 Menschen aus verschiedenen Ländern, alle von höchster Kompetenz in ihrem Metier, haben jeden Tag neben- und miteinander gearbeitet: Archäologinnen, Architekten, Chemiker, Holzwissenschaftlerinnen, Glasmaler, Bauarbeiterinnen, Restauratoren. Die Liste der Ge-werke ist lang.
Sie haben nicht nur wiederaufgebaut. Sie haben die Geheimnisse von Notre-Dame erforscht: Wie konnten die Erbauer im 12. und 13. Jahrhundert ein solches Meisterwerk der Gotik errichten? Vier Generationen haben an der Kathedrale gebaut. Wie konnten sie die Gewölbe so hoch ziehen und gleichzeitig so stabil halten? Alles ohne Software, Maschinen und Strom. Nur mit Axt, Hammer und Meißel, Bleilot und Seilzügen.
Die Antworten, die die heutigen Fachleute gefunden haben, haben ihnen Ehrfurcht eingeflößt. Zum Beispiel: Die Mauern des hohen Gewölbes sind enorm dünn. Damit sie stabil stehen und tragen, wurde im Mittelalter ein Mörtel erfunden, der wie Gummi zwischen den Steinen wirkt. So einfallsreich waren Menschen Jahrhunderte vor uns.
Wer sich die Berichte über den Wiederaufbau von Notre-Dame anschaut, begegnet immer wie-der der Freude, mit der die Handwerker und Wissenschaftlerinnen ihre Arbeit gemacht haben. Alle erzählen von einem besonderen Esprit. Und das in Paris, der Stadt, die weniger für Innerlichkeit und Trost des Jenseits steht. Sondern mehr für das "savoir vivre" im Diesseits, für Kunst und Kulinarik, für Licht und Liebe. Notre-Dame bewegt weltweit Menschen. Auch viele, die nicht an Gott glauben, denen kirchliche Rituale und Gottesdienste fremd geworden sind. Vielleicht spüren sie in einer Kirche wie Notre-Dame ihre Sehnsucht deutlicher: Wir können aus Materiellem etwas Immaterielles schaffen. Es gibt eine große Kraft, die nicht zerstört, sondern aufbaut, die nicht trennt, sondern zusammenführt.
Es gibt zurzeit so viel Spaltung und Destruktives. Der Wiederaufbau von Notre-Dame ist für mich ein starkes, konstruktives Zeichen. Und ich sehne mich nach mehr von diesem Esprit, der Menschen konstruktiv miteinander verbindet.
Für mich ist Notre-Dame so etwas wie eine berühmte Hüterin dieser Sehnsucht. Eine Kirche will nichts. Sie ist einfach da. Man kann hineingehen, seine Sorgen abladen oder seine Freude ins hohe Gewölbe aufsteigen lassen. Man kann den Worten und der Weisheit der Vorfahren begegnen und von ihnen lernen. Und man kann die eigene Schaffenskraft gemeinsam entdecken.
Es gilt das gesprochene Wort.
Anmerkungen:
(1) https://de.catholicnewsagency.com/news/12500/kirchgang-in-aller-welt-in-diesem-land-ist-die-zahl-am-hochsten.
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