Gemeinfrei via unsplash / Tengyart
Heute Hosianna - und morgen?
Worauf man sich (nicht) verlassen kann
02.04.2023 08:35
Sendung nachlesen:

Die Karwoche beginnt mit einem Fest - Palmsonntag. Christen feiern heute den Einzug Jesu in Jerusalem. Menschen jubeln ihm zu. Sie streuen Palmzweige auf seinen Weg, breiten Tücher vor ihm aus. Wie ein König soll er einziehen in Jerusalem. Niemand stört sich daran, dass er auf einem Esel reitet, niemand fragt nach einem hochherrschaftlichen Elternhaus.
Er ist der Retter, so sehen es die Leute: „Hosianna, Hosianna dem Sohne Davids“. So wollen sie ihn sehen. Für sie ist er nicht mehr der Sohn des Zimmermanns aus Nazareth, für die jubelnde Menge ist er der Nachfahre Davids, er ist der Messias. Sie wollen für wahr halten, was sie glauben, sie verfallen in einen kollektiven Rausch. Alles wird gut!

Ob Jesus die Inszenierung durchschaut hat? – ob er wusste, dass die Leute, die ihm heute zujubeln nur wenige Tage später mit gleicher Leidenschaft seinen Tod fordern werden? „Kreuziget ihn, kreuziget ihn.“ – Der Ruf erschallt mit gleicher Vehemenz. Alles Lüge – oder was? Wie positioniere ich mich selbst zwischen Freude und Empörung, was ist Wahrheit, was ist Lüge?

Mir kommen die Bilder vom Herbst 1989 in den Sinn, mit Plakaten und Kerzen zogen die Leute durch die Städte und forderten Freiheit ein. „Keine Gewalt!“, riefen die Demonstranten, daran hing alles. Der kleinste Zwischenfall konnte alle Forderungen zunichte machen. Und das Wunder geschah. Es blieb friedlich. Die Mauer fiel, die Waffen schwiegen.
Keine drei Jahre sind vergangen, als im August 1992 viele von denen, die damals Freiheit und Mitbestimmung einforderten vor den Plattenbauten in Rostock-Lichtenhagen standen. Mit wutverzerrten Gesichtern brüllten sie „Ausländer raus“. Und es blieb nicht bei dem Wutgeschrei, es entwickelte sich eine Pogromstimmung. Dass niemand getötet wurde, als Steine und Brandsätze auf die Unterkünfte der vietnamesischen Kontingentarbeiter geworfen wurden, das grenzt ebenfalls an ein Wunder.
Viele standen nur stumm dabei als das Wohnheim brannte. Zur Randale brauchte es nicht viele Hände. Doch nicht nur die laut grölenden Aufwiegler, auch die stillen Zuschauer erwiesen sich als Brandbeschleuniger in diesen vier Tagen und Nächten des Aufruhrs.

„So sind wir nicht, wirklich nicht“, widersprach eine Frau vor der Kamera. Wie aber sind wir – WIRKLICH? Die friedlichen Demonstranten von 1989 oder der wütende Mob von 1992? Wie ehrlich sind wir in unserer Selbstwahrnehmung?

„Du sollst nicht lügen.“ Ein Gottesgebot und das nicht nur in der hebräischen Bibel. Auch die christliche Gemeinde hält daran fest und in jeder Religion und wohl in jeder menschlichen Gemeinschaft gibt es diese Weisung. Denn wo gelogen wird misstraut man sich, ohne Ehrlichkeit wird einem der Mitmensch zum Feind.
Die Palette im Grenzbereich zur Lüge allerdings ist riesig. Gelogen wird aus Angst, aus Höflichkeit, aus Gemeinheit, zum eigenen Vorteil, am 1. April zum Scherz. Selbst Tiere lügen, sie täuschen Gefährlichkeit vor, ohne gefährlich zu sein. Das nennt man dann nicht Lüge, sondern Mimikry.
Nicht von ungefähr fasst die Bibel die Lüge ziemlich eng: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.“ Anderen schaden, womöglich um des eigenen Vorteils willen, das ist in besonderem Maße verabscheuungswürdig. Der große Graubereich der Selbsttäuschung ist damit allerdings noch nicht ausgeleuchtet.

Wie schwierig ein Urteil über Wahrheit und Lüge zu finden ist, das zeigt ein Defa-Film aus den siebziger Jahren. Er setzt ein deutliches Fragezeichen hinter das achte Gebot. Der Film heißt „Jakob der Lügner“ und ist die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Jurek Becker.
Erzählt wird eine Geschichte aus einem jüdischen Ghetto. Die Menschen sind verzweifelt. Sie sind der Willkür ihrer Aufseher ausgeliefert. Verbote und Anordnungen regeln ihren Alltag. Dennoch versuchen sie, soviel Normalität wie möglich zu leben. Die scheinbare Ausweglosigkeit ihrer Lebenslage ist ihr größter Feind.
Wegen angeblicher Überschreitung der Ausgangssperre hat man Jakob Heym in die Gestapokommandantur beordert. Eigentlich eine für Juden verbotene Zone. Auf dem Flur hört er zufällig wie der deutsche Rundfunk vom Vormarsch der Roten Armee berichtet.

In Windeseile verbreitet sich diese Nachricht im ganzen Ghetto. Jakob macht den Menschen wieder Mut. Die Selbstmorde, die an der Tagesordnung waren, hören schlagartig auf. Die Menschen beginnen wieder Zukunftspläne zu schmieden.
Da Jakob von seinem Aufenthalt bei der Gestapo nicht sprechen will, behauptet er, ein Radio zu besitzen. Nun kommen die Leute zu ihm. Sie wollen immer neue Nachrichten über den Vormarsch der Russen erfahren. Was sagt Churchill zum Krieg? Wie steht es um die Gründung eines jüdischen Staates? Es gibt so vieles, was man wissen möchte, und jede Nachricht von Jakob ist ein kleiner Hoffnungsfunke im jüdischen Ghetto. Jakob Heym sieht sich gezwungen, immer neue Nachrichten zu erfinden.
Er lügt – aus Barmherzigkeit. Der Lebensmut, den er damit verbreitet, ist die Triebfeder weiterzumachen. Und weiter zu lügen. Auf Dauer aber ist das Spiel nicht durchzuhalten, irgendwann fliegt der Schwindel auf. Schließlich offenbart sich Jakob Heym seinem Freund Kowalski. Der war ein dankbarer Abnehmer für jede gute Nachricht. Daraufhin resigniert Kowalski und nimmt sich das Leben.

Welche Macht hat die Hoffnung, welche Macht hat die Realität? Ist eine Lüge aus Barmherzigkeit zu rechtfertigen? Lädt man Schuld auf sich, wenn man sich durchringt, die Wahrheit zu sagen? Der Film gibt keine eindeutigen Antworten, aber er zeigt in welch ein Dilemma man geraten kann, wenn das Leben elementar bedroht ist.
Vielleicht gibt Luthers Auslegung des achten Gebotes ja eine Entscheidungshilfe in einer so schwierigen Situation. Luther sagt dort: „Wir sollen niemandem schaden, sondern alles zum besten kehren.“ Das zumindest hat Jakob Heym versucht, selbst wenn er damit am Ende gescheitert ist.

Wie aber ist das nun mit dem euphorischen „Hosianna“ und dem hasserfüllten „kreuziget ihn“? – Damals beim Einzug Jesu in Jerusalem: stand die Selbsttäuschung am Anfang, am Ende die Bosheit? War beides vielleicht sogar ehrlich gemeint? Zuerst die Hoffnung auf den Erlöser und dann die Verachtung für den Mann in Fesseln, der nicht einmal sich selber helfen kann? Waren die Gefühle, die sich da bahnbrachen überhaupt authentische Regungen einzelner Personen oder war das alles eine kollektive Erregung, angeheizt von Schreiern, von denen man sich mitreißen ließ?

Der Satz von Rosa Luxemburg, dass die „Freiheit immer die Freiheit des Andersdenkenden“ ist, war ein Geschenk für alle, die sich in der DDR der Opposition zugehörig fühlten. Rosa Luxemburg gehörte immerhin in den säkularen Heiligenkalender des Staates und sie zu zitieren brachte die Zensoren zumindest in Verlegenheit. Doch der Satz bleibt auch in der Demokratie wahr und er bleibt ein Satz über den man stolpern kann.
Gerade dann, wenn man sich mit Außenseiterpositionen konfrontiert sieht und mit Leuten umgehen muss, die man als Zumutung empfindet: Klimaleugner, Impfgegner, Reichsbürger. Es fällt nicht leicht, auch dann noch an dem Credo von damals festzuhalten, dass die Freiheit sich immer an der Freiheit des Andersdenkenden zu messen hat.
Je weiter diese Leute weg sind, je mehr man sie auf die Schwächen ihrer Argumentation reduziert, um so größer das Unverständnis, um so heftiger die Ablehnung. Und dann steht man in der Gefahr, sie zu diffamieren oder zu pathologisieren.
Stattdessen gilt es, ihnen Respekt entgegen zu bringen, ihnen solange zuhören, bis hinter den Parolen der Mensch als Individuum erkennbar wird. Ihre Schlussfolgerungen muss man prüfen, was plausibel ist würdigen, man muss aber auch Farbe bekennen und widersprechen, wo man es für nötig hält. Wegducken um des lieben Friedens willen darf ich mich aber nicht.

Noch einmal schaue ich auf den Palmsonntag und die beginnende Karwoche. Die ganze Bandbreite menschlicher Emotionen lässt sich da finden: Euphorie und Wut, Selbsttäuschung und Bosheit, Opferbereitschaft und Angst, Lüge und Verrat, auch Verzweiflung und Scham. Auf nichts scheint Verlass zu sein. Die Freude des Anfangs verfliegt, Freunde werden zu Verrätern, der Triumphzug endet am Kreuz.
Wo ist mein, wo ist unser Platz in diesem Drama? Am Palmsonntag waren nicht die „Guten“ in Jerusalem auf den Straßen und am Karfreitag die „Bösen“, sondern es sind immer dieselben Leute. Und ich mittendrin. Ich möchte im Boden versinken.
Ja, mir ist es wichtig, mich selbst auch in denen zu erkennen, mit denen ich im Blick auf die Karwoche nichts zu tun haben möchte. Ich sehe mich bei denen, die sich von Jesus abwandten, weil er den Kampf scheute. Ich sehe mich an der Seite von Judas, der nach seinem unwürdigen Verrat nur noch tot sein wollte. Ich teile die Scham des Petrus, der gerade noch mit dem Schwert für seinen Freund sterben wollte und ihn kurz darauf verleugnet.

Vielleicht ist es genau solche Empathie für die anderen, die stark macht, das Spiel von gut und böse nicht ewig fortzuführen. Vor allem aber ist es Jesus selbst, der all den Versagern, die ihm auf seinem Lebensweg begegnet sind, die Hand reicht, so wie dem sinkenden Petrus auf dem See Genezareth. Damit gibt er neuen Halt.
Ich höre Jesus sagen: „Ihr habt mich umgebracht mit eurer Angst, eurem Hass, euren Irrtümern, aber ich lebe. Ich verurteile euch nicht. Kommt her, seid endlich frei, lasst euer schlechtes Gewissen hinter euch. Ihr musstet eure Destruktivität offensichtlich ausleben, damit ich nun den Schlussstrich ziehen kann und jetzt beginnt endlich zu leben. Ihr seid frei!“

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

  1. Andrew Lloyd Webber and Tim Rice: Hosanna (Chor), CD-Titel: Jesus Christ Superstar, CD Nr. 1 Track Nr. 6.
  2. Andrew Lloyd Webber and Tim Rice: Herod’s Song (Mike d’Abo), CD-Titel: Jesus Christ Superstar, CD Nr. 2 Track Nr. 6.
  3. Andrew Lloyd Webber and Tim Rice: Everything’s Alright (Yvonne Elliman), CD-Titel: Jesus Christ Superstar, CD Nr. 1 Track Nr. 10+11.
  4. Andrew Lloyd Webber and Tim Rice: Superstar (Chor), CD-Titel: Jesus Christ Superstar, CD Nr. 2 Track Nr. 9.