Auge um Auge und der gerechte Krieg

Symbolbild

Gemeinfrei via unsplash/ Daria Nepriakhina

Auge um Auge und der gerechte Krieg
Strategien zur Minderung von Gewalt
21.01.2024 - 08:35
28.12.2023
Pfarrer Fabian Vogt

von Pfarrer Fabian Vogt

Über die Sendung:

Spätestens seitdem Russland die Ukraine angegriffen hat, ist die alte Frage erneut aktuell: Frieden schaffen ohne Waffen – geht das? Welche Strategien zur Minderung von Gewalt gibt es?

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Das waren noch Zeiten: Als es in Deutschland den Wehrdienst gab. Und Kriegsdienstverweigerer: Das waren diejenigen, die den „Dienst an der Waffe“ nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren konnten – ein Recht, das die Bundesrepublik Deutschland 1949 als erstes Land der Welt in ihr Grundgesetz geschrieben hat. Doch weil man sichergehen wollte, dass solche Vorbehalte nicht vorgeschoben waren, gab es bis in die achtziger Jahre eine … genau: die sogenannte „Gewissensprüfung“.

         Da saßen dann die jungen potenziellen Kriegsdienstverweigerer vor einer Kommission und mussten Fragen wie diese beantworten: „Sie laufen mit Ihrer Freundin durch den Wald. Da kommt eine Gruppe Gewalttäter auf Sie zu … und es ist völlig klar: Die werden erst Ihre Freundin vergewaltigen und Sie anschließend beide töten. Aber: Sie haben eine Maschinenpistole dabei. Was machen Sie?“ Oder: „Ein feindliches Flugzeug mit einer Atombombe nähert sich Ihrer Stadt. Sie haben zufälligerweise ein Flugabwehrgeschütz parat. Was machen Sie?“

         Tja, was würden Sie in so einer Situation machen? Was würde ich tun? Würde ich in einem derart extremen Moment fest zu meinen pazifistischen Grundansichten stehen und zulassen, dass meine Freundin beziehungsweise die Stadt und ich selbst vernichtet werden – oder würde ich einsehen, dass es manchmal eben doch legitime Gründe für den Einsatz von Gewalt gibt?

Entscheidend an diesen Fragen war: Auf einmal ging es nicht mehr darum, in friedensbewegten Diskussionsgruppen allgemein über den Sinn oder Unsinn von Gewalt zu reden. Mal abgesehen davon, dass diese Dilemma-Fragen extrem konstruiert waren: Auf einmal wurde das Thema erschreckend konkret … und erschreckend persönlich. Was würde ich in dem Fall, dass ich angegriffen werde, tun? Gerade dann, wenn ich Gewalt eigentlich verabscheue?

Die Frage danach, ob es legitim ist, in Auseinandersetzungen Gewalt anzuwenden, hat seither nichts von ihrer Aktualität verloren.

Spätestens, seit die Ukraine nach dem Angriff Russlands auch Deutschland um Waffen zur Selbstverteidigung bittet, ist sie sogar brandaktuell: Kann, darf, soll, muss ein Mensch sich gegebenenfalls gewaltsam gegen Aggressoren verteidigen – oder gibt es Alternativen? Funktionierende Alternativen? Darum geht es heute Morgen.

Übrigens: Neu ist das Thema nicht. Es wird sogar schon seit der Antike leidenschaftlich diskutiert. Und der Schlüsselbegriff dieser Diskussion lautete fast zwei Jahrtausende lang: Gibt es einen „Gerechten Krieg“? Ja, meinten viele Philosophen und Theologen, es gibt gerechte Kriege. Vor allem, wenn eine Gemeinschaft oder ein Land sich wirklich „nur“ verteidigt – dann ist das ein gerechter Krieg.

Unter anderem hat der Kirchenvater Augustinus im 5. Jahrhundert klare Kriterien für so einen „Gerechten Krieg“ entwickelt: Es muss um einen eindeutigen Verteidigungsfall gehen. Es muss das richtige Ziel, nämlich die Wiederherstellung des Friedens erkennbar sein. Und die Verhältnismäßigkeit der Mittel und der zu erwartenden Folgen der Verteidigung sollen auf jeden Fall gewährleistet sein.

         Das Problem ist nur: Auch Diktatoren kennen diese Definitionen und behaupten seither einmütig, ihre Aggression sei doch nichts anderes als ein „Gerechter Krieg“ – weil sie sich ja nur verteidigen würden. Adolf Hitler zum Beispiel rechtfertigte den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in seiner Reichstagsrede am 1. September 1939 mit einem angeblichen polnischen Angriff auf den Sender Gleiwitz in Schlesien – und erklärte: „Seit 5:45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen.“ ZURÜCKGESCHOSSEN! Also: nur verteidigt. Und auch Wladimir Putin wird nicht müde, in den Medien zu betonen, dass sein Angriff auf die Ukraine eine „Militärische Spezialoperation“ zur Verteidigung gegen ein angeblich faschistisches Gebaren der Ukraine sei. Ist wohl nicht so einfach mit dem „Gerechten Krieg“.

         Gleichzeitig gibt es Persönlichkeiten, die wir gerade deshalb bewundern, weil sie gezeigt haben, dass es tatsächlich möglich ist, Unrecht gewaltfrei zu überwinden: Nelson Mandela etwa beendet gewaltfrei die Apartheid in Südafrika, Mahatma Gandhi die englische Besatzung Indiens und Martin Luther King die Rassentrennung in den USA. Also: Es geht doch! Viele, die heute für unbedingte Gewaltfreiheit eintreten, berufen sich auf solche herausragenden Menschen, die die Macht der Gewaltlosigkeit demonstriert haben.

Zu diesen Persönlichkeiten gehört übrigens auch Jesus, der immer wieder betont hat, dass die Liebe und nicht die Gewalt der richtige Weg sei, um die Gesellschaft zu verändern.

         Was gilt denn nun: Kann man Gewalt gewaltfrei in den Griff bekommen – oder braucht es ab und an doch die Gewalt derer, die sich wehren? Einer, der schon in den späten Sechzigern überzeugt war, dass es in der Frage des „Gerechten Kriegs“ einen Perspektivenwechsel braucht, war John Lennon, der mit seinem Lied „Give Peace a Chance“ einen Welthit landete. Gib dem Frieden eine Chance. 

Give peace a chance. Gib dem Frieden eine Chance. Was kann man tun, um Gewalt in Auseinandersetzungen zu vermindern? Und: Gibt es Fälle, in denen die Anwendung von Gewalt zur Verteidigung eben doch richtig und legitim ist? Immerhin soll selbst Mahatma Gandhi, einer der „Erfinder“ des gewaltfreien Widerstands, sinngemäß gesagt haben, dass er sich wohl notfalls für das Töten entscheiden würde, um nicht passiv mitansehen zu müssen, wie jemand getötet wird.

Denn ist es nicht so, dass ein Nichtstun, das andere machen lässt, selbst mit zur Gewalt beiträgt? Sprich: Wenn ich einen Gewalttäter nicht aufhalte – bin ich dann nicht auch mitverantwortlich für die Gewalt, die dieser anschließend Schwächeren antut? Aus einer noch weiter gehenden Perspektive könnte man sogar sagen: Wenn ich einen notorischen Triebtäter in Sicherheitsverwahrung nehme, dann tue ich ihm natürlich auch Gewalt an – ich beraube ihn seiner Freiheit. Zugleich rette ich damit aber viele Menschen vor seiner Gewalt. Es ist und bleibt kompliziert mit der Frage nach legitimer Gewalt und dem Pazifismus.

         Jesus, der gerne als Verfechter eines unbedingten Pazifismus zitiert wird, war übrigens selbst Teil eines großen historischen Prozesses, in dem sich die Gesellschaft langsam in Richtung Gewaltverzicht entwickelte. Die berühmte Formel aus der Bibel „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ (*1) etwa war gerade kein Rachewort, kein Aufruf zu immer mehr Gewalt. Die Formel entstand in einer Zeit und Kultur, in der ein ziemlich ungezügelter Rachegeist herrschte. Das erlittene Unrecht einer Person konnte oftmals zu langanhaltender Blutrache zwischen Großfamilien und ganzen Volksgruppen führen. Da ruft der Satz „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ zur Mäßigung auf.

Lasst die Gewalt nicht eskalieren, sondern zügelt sie, begrenzt sie! Beherrscht euch!

Fortan galt: Ein erlittener Schaden darf maximal durch einen gleichwertigen Schaden ausgeglichen werden, dann soll wieder Frieden sein. Diese Bewegung zur Mäßigung führt Jesus weiter, wenn er sagt: „Ihr habt gehört, dass den Alten gesagt ist: ,Auge um Auge, Zahn um Zahn'. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.“ (*2) Eine Weiterentwicklung, die er durch die Idee der Feindesliebe sogar noch toppt: „Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen. Segnet die, die euch verfluchen.“ (*3)

         Was heißt das nun? „Liebt eure Feinde“? Hätte Jesus den Ukrainern heute tatsächlich empfohlen, die Russen, die Kiew bombardieren, einfach zu lieben und sie zu segnen – anstatt sich zu wehren? Herausfordernde Frage, die gar nicht so leicht zu beantworten ist. Was auch daran liegt, dass es Jesus um mehr geht. Zumindest wird in seinen Worten eines sehr deutlich: Wer die Spirale von Hass und Gewalt durchbrechen will, der muss irgendwann anfangen, seinen Gegner nicht mehr zu verteufeln und zu verdammen. Der muss deutlich machen, dass er selbst kein böser Widersacher ist, sondern ein Gegenüber, das den anderen achtet und Frieden haben möchte. Nelson Mandela hat dieses Vorgehen einmal mit den charmanten Worten zusammengefasst: „Auch mit einer Umarmung kann man einen politischen Gegner bewegungsunfähig machen.“ (*4)

Liebt eure Feinde! In der christlichen Friedensforschung geht es darum, diesen von Jesus angestoßenen Umdenkprozess konkreter zu skizzieren. Was schon damit anfängt, dass der Ausdruck „Gerechter Krieg“ bei einigen inzwischen als überholt gilt. Wenn überhaupt, dann wird von „Rechtserhaltender Gewalt“ gesprochen. Oder noch programmatischer von „Gerechtem Frieden“.

Hinter der Formulierung „Gerechter Frieden“ verbirgt sich tatsächlich ein Paradigmenwechsel: Weil dabei nämlich nicht mehr der Krieg, sondern der Frieden im Fokus steht. Und damit die Frage: Wie können wir so leben, dass es gar nicht mehr zu Kriegen kommt?

Während die römischen Strategen noch das Motto hatten „Si vis pacem para bellum“… „Wenn du Frieden willst, dann bereite den Krieg vor!“…  also: Sorge für die nötige Abschreckung, damit dein Gegner dich nicht angreift …, vertreten viele in der Konfliktforschung heute den Grundsatz: „Wenn du Frieden willst, dann bereite den Frieden vor.“

         Was heißt das? Es heißt: Werde aktiv! Tu was für den Frieden! Hier und jetzt. Warte nicht, bis der Krieg oder der Streit kommt, sondern sorge vorher dafür, dass es gar nicht erst so weit kommt. Dabei schwingt in der Idee vom „Gerechten Frieden“ vielerlei mit: zum Beispiel die Erkenntnis, wie wichtig Gerechtigkeit für den Frieden ist, weil ein Land, in dem die Menschen soziale Gerechtigkeit, Rechtsstaatlichkeit, die Achtung der Menschenrechte und Sicherheit für alle erleben, in der Regel kein anderes Land angreift. Ein Zusammenhang, den schon die biblischen Propheten klar benennen: Ungerechtigkeit führt zu Gewalt. Wenn ich also Gewalt vermindern will, dann muss ich die Ungerechtigkeit vermindern.

Eine starke Idee: Wenn ich Frieden will, dann muss ich den Frieden fördern. Zum Beispiel, indem ich die Dialogfähigkeit von Menschen und Staate fördere. Oder: Indem ich einen konstruktiven Umgang mit Konflikten einübe … indem ich zeige, dass Versöhnung möglich ist … und indem ich immer wieder vertrauensbildende Maßnahmen ergreife.

         Die Dichter der biblischen Psalmen haben übrigens schon vor Jahrtausenden verstanden, dass Frieden immer mit Gerechtigkeit und dem Glauben an höhere Werte verbunden sein wird. Zumindest schreibt einer von ihnen in Psalm 85: „Gottes Hilfe ist denen nahe, die ihn so fürchten, dass in unserem Lande Ehre wohne; dass Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen; dass Treue auf der Erde wachse und Gerechtigkeit vom Himmel schaue.“ Eine Welt, in der sich Gerechtigkeit und Friede küssen, ist garantiert eine ohne Gewalt.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

  1. „Give peace a chance” von John Lennon
  2. „Verleih uns Frieden gnädiglich” von: Johann Walter aus: „Himmlische Cantorey: Music of the Reformation”
  3. „Verleih uns Frieden gnädiglich” von Christian Sprenger aus: „Genesis Brass: Hymnus - Fantasien über Evangelisch- 
      Lutherische Choräle zum 400. Geburtstag von Paul Gerhardt“

Literatur / Zitate dieser Sendung:

  1. 2. Mose 21,23-25
  2. Mt 5,38f
  3. Mt 5,44-45
  4. Nelson Mandela in seiner Rede nach der Wahl zum Präsidenten von Südafrika.

28.12.2023
Pfarrer Fabian Vogt