Mach mal langsam

Mach mal langsam

Gemeinfrei via pixabay / 12019

Mach mal langsam
Innehalten und nach dem eigenen Rhythmus fragen
04.02.2024 - 08:35
28.12.2023
Pfarrerin Sandra Zeidler

von Pfarrerin Sandra Zeidler

Über die Sendung:

Unsere Autorin Sandra Zeidler hat 2024 zu ihrem „Jahr des Esels“ erklärt. Wenn sich ein Esel störrisch zeigt, dann hat das seinen Grund. Man kann von seiner Weisheit lernen.

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Slow Travel ist seit Jahren ein Trend: Langsam reisen, mit Bus und Bahn, mit dem Fahrrad oder gleich zu Fuß. Ich bin auch gerne so unterwegs, langsam durch die Lande zuckeln und Zeit haben für den Wegesrand. Ein Slow-Travel-Traum von mir ist eine Reise mit einem Esel, eine Wanderreise mit einem grauen Gefährten an meiner Seite, schön im Eselstempo, ab und zu mal innehalten, schauen und dann gemächlich weitergehen.

Ich stelle mir das großartig vor, so dem eigenen Rhythmus und dem des Tieres zu folgen, von nichts angetrieben: keine Reisegruppe, die drängelt, keine Sehenswürdigkeit, die bestaunt werden will, kein Hotelbett, das lange im Voraus gebucht werden musste.

Ein Vorbild dafür habe ich schon – ein literarisches zwar, aber immerhin: Gribouille heißt er und ist ein kräftiger, schokoladenfarbiger Esel mit weißem Maul und rotem Halfter. Der Schriftsteller Andy Merrifield erzählt, wie er mit dem Esel Gribouille in Frankreich durch die Auvergne wandert, langsam, bedächtig, ganz so wie sein „compagnon de route“ sich das vorstellt. Wenn Gribouille einen Löwenzahn am Wegesrand sieht, dann zieht er mit aller Eselskraft zur gelben Leibspeise und fängt an zu fressen. Da hilft nur Ruhe bewahren, erzählt Merrifield. Ziehen, zerren, schimpfen – nützt alles nichts. Erst wenn Gribouille fertig gefressen hat, trottet er zufrieden weiter.

Gribouille meint im Französischen jemanden mit einem schlichten Gemüt – es kann aber auch „Schlaumeier“ heißen. So wie der Schriftsteller seinen Gribouille beschreibt, scheint er eher Letzteres zu sein. Nichts bleibt unbedacht bei einem Esel. Das wird deutlich, wenn man in Merrifields Reisebeschreibung eintaucht. Mit Druck geht gar nichts, alles kann nur freiwillig geschehen. Kommt Gribouille eine Situation gefährlich vor, dann muss er sie erst sehr sorgfältig aus der Nähe besehen, bevor er entscheidet, geschweige denn handelt. Gribouille entscheidet selbst, wann und wie er über einen umgekippten Baumstamm steigt. Nur Menschen halten Esel dann für dumm, stur und dickköpfig. Gribouille und seine Artgenossen sind allenfalls eigenwillig. Sie sind gemächlich, machen alles step by step. Sie sind achtsam, sie nehmen genau wahr, was um sie herum geschieht.

Andy Merrifield erzählt:

„Gribouille bleibt stehen und einen magischen Augenblick lang verharren wir in absoluter Stille, Seite an Seite, schauen nach vorne, ein jeder in seine eigenen Gedanken, seine eigenen Träumereien versunken. (…) Er hat den Blick auf das Eselsnirwana gerichtet; bisweilen hält er von sich aus inne, scheinbar grundlos, um zu lauschen und zu schauen, um seine Umgebung in Augenschein zu nehmen. Sein Kopf ist regungslos, wie erstarrt.

Ich betrachte ihn staunend, sehe, wie ein träumendes Tier in eine andere Welt eintaucht, und bedaure meine eigene profane Unbeholfenheit. Es ist kein verlorener Augenblick und mehr als eine Verschnaufpause, wenn ein Esel stehenbleibt, ohne dass etwas geschieht. Man nimmt die nachhaltige Präsenz, die Fülle wahr. Es geschieht etwas, aber nichts, das man sehen kann. (...) Gribouille seufzt, dann seufzt er abermals, lässt die Ohren kreisen, bläht die Nüstern auf und trabt weiter, offenbar klüger als zuvor.“

2024 habe ich zu meinem Jahr des Esels erklärt! Ein Jahr Slow Travel und zwar nicht nur im Urlaub, sondern in allem, was ich tue oder lasse. Beim Arbeiten, wenn ich Freunde treffe, einkaufe, meine Mutter besuche, in meinem Stadtteil spaziere: Slow Travel! Wenn ich Entscheidungen treffe und wenn ich ein Gespräch führe, will ich mich nicht mehr antreiben lassen von dem Gefühl, ich müsste die Antwort wissen, ich müsste wissen, was ich will, wo es langgeht, was gut oder falsch ist. Das bringt mich nirgends hin, höchstens in die Sackgasse.

Ich nehme mir mehr Gribouille-Momente und lerne von der Weisheit der Esel: Stehenbleiben. Innehalten. Lauschen. Die Umgebung genau in Augenschein nehmen. Das eigene Leben betrachten. Was hat mich hierhergebracht? Wer bin ich? Wer sind die anderen? Was liegt nahe? Es ist vielleicht gar nicht mal so die Frage, wie es weitergehen wird, ob alles bisher richtig war oder ob man irgendwann mal den falschen Weg genommen hat. Auch nicht die Frage, was jetzt am besten ist, wie man handeln soll. Mit Druck geht gar nichts!

Wenn ich sage „ich nehme mir mehr Gribouille-Momente“, dann meine ich damit: Stehenbleiben ist kein verlorener Augenblick und es ist mehr als eine Verschnaufpause. Innehalten mitten im Leben. Hier stehe ich. Da bin ich. So wie es in der Bibel im Buch Hiob heißt: „Steh still und beachte die Wunder Gottes.“ (Hiob 37, 14)

Der Esel Gribouille scheint ein guter Lehrmeister für den Autor Andy Merrifield zu sein. Ihr Slow Travel durch die Auvergne bringt den Zweibeiner auf viele Gedanken, die ihm im beengten Schreibzimmer und mit den Ansprüchen unserer Welt sicher nicht gekommen wären. Wenn sein Esel so unvermittelt stehenbleibt und schaut, vielleicht auch nachdenkt – so genau weiß man nicht, was in einem Eselsschädel vor sich geht – also, in diesem Innehalten erkennt Merrifield eine Form von meditativem Denken.

Meditatives Denken hetzt nicht von einem Thema zum nächsten, berechnet nicht immer neue, effizientere, lukrativere Algorithmen. Meditatives Denken ist langsam, sammelt sich und „sinnt über die Bedeutung nach, die allem innewohnt, was ist“. Diese Definition hat sich Andy Merrifield nicht selbst ausgedacht. Meditatives Denken geht auf den Philosophen Martin Heidegger zurück. Aber beim Lesen von Merrifields Reisebeschreibung mit Esel konnte ich mir vorstellen, wie das Konzept von Heidegger ihm im Gehen immer klarer wurde, weil Gribouille es für ihn so schön anschaulich gemacht hat.

Meditatives Denken bedarf der gleichen Sorgfalt wie jede andere Tätigkeit. Es gibt keinen sofortigen Erfolg, kein Ergebnis. „Der Mensch muss in der Lage sein, sich in Geduld zu fassen“, sagt Heidegger, und jeder Mensch kann das auch.

Andy Merrifield hat durch seinen Gefährten Gribouille gelernt, dass es völlig ausreicht, „darüber nachzusinnen, was naheliegt, was uns betrifft, jeden von uns, hier und jetzt: hier, auf diesem Fleckchen Erde, jetzt, in diesem Augenblick der Geschichte.“ 

Was naheliegt, was mich betrifft, in diesem Augenblick der Geschichte…

Es betrifft mich, welcher Tonfall gerade vorherrscht in unserer Gesellschaft: Beschimpfung statt Zuhören. Ungeduld. Die Vermutung, dass mein Gegenüber vielleicht auch ein bisschen recht haben könnte, gibt es anscheinend nicht mehr. Es scheint auch nicht mehr die Zeit oder die Muße zu geben, sich auseinanderzusetzen. „Du bist doch bescheuert!“ zu sagen geht schneller, als stehen zu bleiben und zuzuhören, die Argumente abzuwägen und dann vielleicht auch dazu zu kommen, dass man verschiedener Meinung ist. Na und?! Das wird die Demokratie nicht zerstören.

Vielleicht braucht es auch hier „Gribouille-Momente“: innehalten, nicht verkrampft nach Hau-Drauf-Lösungen suchen. Sich die Lage genau anschauen: Wer sind die anderen, was liegt nahe, was bringt uns gemeinsam weiter? Ich wünsche mir das für mein Jahr des Esels.

Und für mich selbst wünsche ich mir auch, dass ich immer wieder innehalte. Stehen bleibe. Mir hilft es, tatsächlich morgens zu meditieren, mir eine halbe Stunde der Stille zu gönnen. Bei dem Lyriker und Theologen Angelus Silesius heißt es: „Halt an, wo läufst du hin – der Himmel ist in dir. Suchst du Gott anderswo, du fehlst ihn für und für.“

Der Himmel ist in mir, so empfinde ich das, wenn ich mir Zeit und Muße zugestehe, wenn ich der Sehnsucht ihren Raum gebe und in mir lausche, was sich zu Wort melden will. Nur in der Stille haben die Antworten auch eine Chance, gehört zu werden: Was hat mich hierhergebracht? Wer bin ich?  Was liegt am Wegesrand, was ich bisher übersehen habe?  Dann fasse ich Mut für den Weg, für die unbekannte Route, die vor mir liegt. Weil ich mich getragen fühle.

Slow Travel, das habe ich mir vorgenommen in meinem Jahr des Esels. Sowohl im Außen als auch im Innen. Ich möchte mich nicht hetzen lassen von schneller werdenden Nachrichten. Ich möchte mich bewegen, aber nicht lähmen lassen von schrecklichen Kriegsbildern. Ich möchte mich nicht anstacheln lassen von populistischen Parolen.

„Steh still und beachte die Wunder Gottes!“, heißt es in der Bibel. Das tut der Esel Gribouille ja auch, der graue Held aus dem Reisebuch von Andy Merrifield. Er bleibt stehen und betrachtet einen Löwenzahn, ein Wunder Gottes – und frisst ihn auf! Lecker ;-)

Das könnte eine Lektion sein beim Langsam-durch-das-Leben-Reisen: Die Welt ist schön, genieße sie! Lass sie dir nicht miesmachen von denen, die immer schnell-schnell weiterhasten von einem Aufreger zum nächsten, die genau Bescheid wissen, wo es langgeht und was alles schlecht läuft, und überhaupt, wenn sie was zu sagen hätten…!

„Halt an, wo laufst du hin, der Himmel ist in dir!“ Früher habe ich mich gefürchtet vor dem, was da in mir zutage kommen könnte. Heute freue ich mich auf die Stille und die Fragen, die Gedanken und Sehnsüchte, die in mir hochsteigen. Weil sie mir zeigen, was meine Seele braucht. Weil sie den Himmel öffnen können.

Innehalten mitten im Leben. Läuft es so, wie es mir guttut? Bin ich in der richtigen Geschwindigkeit unterwegs? Oder rauscht alles an mir vorbei?

Innehalten mitten am Tag. Die Mittagsglocken läuten und ich bleibe, egal wo ich bin, einen Moment stehen, halte inne. Ich höre nur die Glocken. Ich gehe gleichsam auf im Geläut und lasse mein Gebet aufsteigen zu Gott: Hilf mir erkennen, was unnötig ist. Nimm alle Betriebsamkeit von mir. Ich bin dein.

Das ist kein verlorener Augenblick, denn in diesem Moment bin ich ganz da, hier auf diesem Fleckchen Erde. Dann bin ich präsent in meinem Leben, das mir geschenkt ist, das ich gestalten kann und soll.

Der Philosoph Heidegger sagt: Du kannst meditativ denken und du kannst dich in Geduld fassen.

Der Esel Gribouille sagt: Schau dir alles genau an, überstürze nichts, entscheide selbst.

Und die Bibel: Steh still und beachte die Wunder Gottes. (Hiob 37,14)

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

1. Sophie Hunger „Le vent nous portera“

2. Sophie Hunger „Le vent nous portera“

3. Sophie Hunger “Le vent nous portera“

 

Literatur dieser Sendung:

1. Andy Merrifield: Die Weisheit der Esel. Ruhe finden in einer chaotischen Welt. München 72018 (Nymphenburger Verlag)

28.12.2023
Pfarrerin Sandra Zeidler