Gefangen in der Antriebslosigkeit

Am Sonntagmorgen

Gemeinfrei via Wikipedia Commons / Geertgen tot Sint Jans (Johannes der Täufer, Berlin, Gemäldegalerie)

Gefangen in der Antriebslosigkeit
Von der Trägheit des Herzens
11.06.2023 - 08:35
07.01.2023
Gunnar Lammert Türk

von Gunnar Lammert-Türk

Über die Sendung:

Die Acedia oder die Trägheit des Herzens gilt als eine und womöglich größte der sogenannten Todsünden. Es handelt sich um die Apathie Gott, den Mitmenschen und sich selbst gegenüber mit ihren Begleiterscheinungen: Überdruss am Leben, Gefühl der Leere und Sinnlosigkeit, zähe Langeweile, Unfähigkeit, sich anderen zuzuwenden, zielloses Umherflattern des Geistes. Ihre säkularen Verwandten heißen Depression und Melancholie.
In Kunst und Literatur haben sie ihren Niederschlag ebenso gefunden wie in philosophischen Schriften und geistlichen Leitlinien. Über die Gründe ihres Entstehens wird ebenso nachgedacht wie Wege der Vermeidung und der Behandlung gesucht werden. Und immer bleibt die Frage im Raum: Wie viel Anteil, wieviel Schuld haben die Betroffenen selbst daran?

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In sich zusammengesunken sitzt er da: Johannes der Täufer. Trüben Blicks brütet er, die Wange müde in die Hand gestützt, die nackten Füße wie unfähig, je wieder aufzubrechen, ratlos unge-schickt übereinander geschoben. So ist Johannes, in Antriebslosigkeit gefangen, auf einem Bild des niederländischen Malers Geertgen tot Sins Jans aus dem 15. Jahrhundert mit dem Titel „Johannes der Täufer in der Einöde“ zu sehen. Auf die paradiesisch anmutende sanfte moosige Waldlandschaft passt der Titel nicht, aber im Innenleben des Täufers ist es karg und leer wie in einer Einsiedlergegend. Sein braunes Gewand erinnert an ein Mönchsgewand. Und von der so genannten „Mönchskrankheit“ scheint er auch befallen, von der Acedia, der apathischen Gleichgültigkeit. Wie Philosophiehistoriker Wilhelm Schmidt-Biggemann beschreibt, zeigt sie sich darin, dass die Mönche …

Wilhelm Schmidt-Biggemann:
… zerstreut sind, plötzlich anfangen, über ihre eigenen Dinge missmutig zu werden, schwermütig. Die Aufmerksamkeit der Seele zieht sich von ihrem Gegenstand, nämlich Gott, zurück und macht Gott unattraktiv. Die Kulte, die ausgeübt werden sollen, werden lustlos ausgeübt. Tonlos wird gesungen. Die Gebete sind fahrig. Die Arbeiten sind träge und nachlässig. Und der mönchische Gehorsam bröckelt.

Seit es Mönche gibt, seit den Tagen der Einsiedler in der ägyptischen und syrischen Wüste, gibt es dieses Phänomen des seelischen Ermüdens, der getrübten Aufmerksamkeit im Gebet, des Überdrusses am Leben mit Gott. Die ersten Mönche machten dafür widergöttliche Mächte verantwortlich, die sie Dämonen nannten. Benediktinerin Schwester Ruth spricht von Kräften, …

Schwester Ruth:
… die dem guten Wollen und guten Üben sich entgegenstellen. Das ist eine Erfahrung im geistlichen Leben, die zum Beispiel bei den Wüstenmönchen sehr präsent war, auch noch bei Benedikt durchaus: Da, wo der Mensch den Weg mit Gott beginnt und konsequent geht und sich besonders anstrengt, da treten Kräfte auf, die ihn davon abbringen wollen.

Und das gerade dann, wenn der geistliche Weg mit Erfolg beschritten wird. Die Kräfte, die dagegen antreten, ob sie nun von außen kommen, wie die frühen Mönche mutmaßten, oder aus dem eigenen Seelengrund aufsteigen, melden sich bevorzugt, wenn die Anstrengung ein wenig nachlässt.
Besonders gern um die Mittagszeit. Deshalb erhielt die Mönchskrankheit, die Trägheit des Herzens, den Beinamen „Mittagsdämon.“ Wie die Psychiaterin Gabriele Stotz-Ingenlath sagt, verbirgt sich hinter diesem Wort …

Gabriele Stotz-Ingenlath:
… eine Stimmungsphase oder eine Gestimmtheit, die vor allem mittags auftritt, wenn der Mönch sozusagen seine Vormittagsarbeit getan hat, wenn die Tagesstruktur auch ein bisschen Freiräume lässt, Muße zulässt, wo der Mönch oder der Mensch ganz allgemein mit sich selbst allein ist und das dann irgendwie nicht aushält. Und da hat es eben damals diese Idee gegeben, das ist jetzt das Einfallstor für das Böse.

Die Trägheit des Herzens als Mönchskrankheit und geistliche Ermattung des gläubigen Menschen hat eine weltliche Verwandte: die Depression. Zumindest in den Symptomen ist sie der Acedia sehr ähnlich. Beide sind geprägt von einem tiefen Überdruss am Leben, dem Gefühl der Leere und Sinnlosigkeit, zäher Langeweile, der Nachlässigkeit sich selbst gegenüber und der Unfähigkeit, sich anderen zuzuwenden, dem ziellosen Umherflattern des Geistes. Bei der Acedia als seelentötender Apathie der Gläubigen lässt sich von einer gewissen Selbstverschuldung durch Nachlässigkeit und Trägheit sprechen. Trifft das auch auf von Depressionen befallene Menschen zu? Die Psychiaterin Gabriele Stotz-Ingenlath bezweifelt das:

Gabriele Stotz-Ingenlath:
Wenn ich jetzt von Depression als Krankheit ausgehe, da muss man schon sagen, das ist eher nicht selbst verschuldet. Und das, was da in der Depression eben stattfindet, ist, dass man sich tatsächlich Schuld vorwirft, die vielleicht gar nicht in dem Ausmaß besteht. Bei der Acedia, die letztlich ein Stimmungstief ist, was man in Mußezeiten letztlich durch ein Sich-Gehenlassen erfährt, da kann man schon sagen, wenn ich mich jetzt in diesem Weltschmerz, in diesem Ekel des Lebens, in diesem Mich-nicht-Aufraffen suhle, da gibt es bestimmt eine Verantwortung: Erkenne ich diese Gefahr und gebe ich mich da hin oder muss ich mich nicht bemühen, gegen zu rudern, wenn ich das spüre, dieses Kommen des Mittagsdämons, der Acedia?

Möglicherweise gibt es auch bei der Depression solch eine Gefahrensituation, ein als Verlockung zur harmlosen Selbstaufgabe getarntes „Anklopfen“. Eine Art gesellschaftliche Herzensträgheit, Sinnaufgabe und zerstörerischen Überdruss äußert Prinz Leonce in Georg Büchners Lustspiel „Leonce und Lena“ aus dem frühen 19. Jahrhundert. Der Prinz sinniert kokett:

Was die Leute nicht alles aus Langeweile treiben! Sie studieren aus Langeweile, sie beten aus Langeweile, sie verlieben, verheiraten und vermehren sich aus Langeweile und sterben endlich aus Langeweile, und - und das ist der Humor davon - alles mit den wichtigsten Gesichtern, ohne zu merken, warum, und meinen Gott weiß was dazu.   
(Georg Büchner: „Leonce und Lena“; erster Akt, erste Szene)

Weniger offensichtlich in der Sinnlosigkeit gefangen, ist die Antriebslosigkeit als Gesicht einer Zeit in Iwan Gontscharows „Oblomow“ meisterhaft festgehalten worden. Der taten- und energielose Gutsbesitzer befindet sich dauerhaft in einer Art behaglich bedrückender Selbstaufgabe. Sein Tagesbeginn macht das anschaulich.

Kaum aufgewacht, fasste er sogleich den Entschluss, aufzustehen, sich zu waschen, Tee zu trinken, gründlich nachzudenken, sich etwas zu überlegen, es aufzuschreiben und überhaupt - der Angelegenheit so viel Aufmerksamkeit zu widmen, wie sie verdiente. Ein halbes Stündchen blieb er noch liegen, quälte sich mit diesem Entschluss herum, entschied dann aber, dass auch nach dem Tee noch Zeit dafür sei, er den Tee aber, wie er das immer tat, auch im Bett trinken könne, umso mehr, als ihn ja auch nichts daran hinderte, im Liegen nachzudenken. Gesagt, getan. Nach dem Tee machte er schon Anstalten, sich von seinem Lager aufzurichten und wäre beinahe aufgestanden; er warf einen Blick auf die Pantoffeln, streckte sogar schon ein Bein in ihre Richtung aus dem Bett, zog es aber sogleich wieder zurück.
(Iwan Gontscharow: „Oblomow“)
 

Weil Depression und Acedia zerstörerisch sind, werden sie nicht einfach hingenommen. Es gibt Mittel, ihnen zu begegnen. Im Kloster- und Mönchsleben lassen sie sich auch den Regularien entnehmen, die dafür aufgestellt wurden. So etwa in der Regel des Benedikt von Nursia, die bis heute für alle Benediktiner und Benediktinerinnen Gültigkeit hat. Darin werden Verhaltensformen genannt, die dem Entstehen der Herzensträgheit Acedia vorbeugen können. Mönche oder Nonnen haben nach dem Grundsatz der Gütergemeinschaft keinen Privatbesitz. Im Kapitel über den Kellermeister, der verantwortlich ist für die Zuteilung der Güter, heißt es:

Schwester Ruth:
„Er mache die Brüder nicht traurig. Falls ein Bruder unvernünftig etwas fordert, kränke er ihn nicht durch Verachtung, sondern schlage ihm die unangemessene Bitte vernünftig und mit Demut ab.“ Also nicht die eigene Stellung auftischen und auftrumpfen, sondern sich auf eine Stufe stellen und sozusagen den, der diese Bitte ausgesprochen hat, für diese Entscheidung gewinnen und nicht von oben herab ihn klein machen. Weil das tatsächlich natürlich Reaktionen hervorruft, die so ein Einfallstor dafür sein können, dass jemand zumacht und einfach sagt, nein, jetzt habe ich keine Lust mehr oder so, sich verweigert innerlich aus Protest und dann in so eine Dynamik reinrutscht, die ihn insgesamt die ganze Sache vom geistlichen Leben in Frage stellen lässt.

Am Ende des Kapitels über den Kellermeister steht die Mahnung: Niemand soll verwirrt und traurig werden im Hause Gottes. Traurigkeit und Verwirrung können der Trägheit des Herzens den Weg bereiten. Mönche und Nonnen begegnen dieser Gefahr durch Demut, Gelassenheit und Maßhalten in Genüssen und Affekten. Und durch Vermeiden von Müßiggang im Sinne von Nichtstun oder sinnloser Geschäftigkeit. Dem dient auch die körperliche Arbeit, die bei den Benediktinern neben Gebet und Schriftlesung ohnehin zum Tagesrhythmus gehört. Sie sehen in ihr ein Mittel für ein gesundes geistliches Leben, denn sie sorgt für den Ausgleich von Körper und Seele. Sich um ein solches Gleichgewicht zu bemühen und Haltungen zu trainieren, die Gemütsverwirrung und Seelenverdunkelung vorbeugen, das können auch Menschen außerhalb der Klöster. Auch für sie kann es nützlich sein, wachsam die Regungen der Seele zu beobachten, wie es in der Benediktsregel nahegelegt wird. Schwester Ruth erläutert:

Schwester Ruth:
Die Wachsamkeit ist für Benedikt eine Grundhaltung und die finde ich sehr gut beschrieben in der ersten Stufe der Demut in dem Demutskapitel sieben, da heißt es: „Der Mensch achte stets auf die Gottesfurcht und hüte sich, Gott je zu vergessen.“ Es geht bei diesem Defizit an Lebenskraft, wenn man Acedia vielleicht auch so mal beschreibt, glaube ich, tatsächlich auch um Vergessen, dass mir abhanden kommt, was für mich gut ist, wovon ich lebendig bin, was sich für mich lohnt.

Nicht zu vergessen, was mir gut tut: Das ist ein Mittel, der Herzensträgheit die Herrschaft streitig zu machen. Das mag auch im Fall der Depression von Nutzen sein, sofern die Betroffenen in der Lage sind, die Erinnerung an das, was gut tut, gegen die Bedrückung zu aktivieren. Keinesfalls sollten sie sich in einer Art dunklen Sucht dem Welt- und Lebensüberdruss hingeben oder ihn verklären. So wie Mönche und Nonnen, aber auch gläubige Menschen ganz allgemein Verantwortung gegenüber der Verlockung zur Herzensträgheit haben, so haben auch von Depression Betroffene ein gewisses Maß an Verantwortung für ihre Verfassung. Zumindest dann, wenn sie nach einer ersten Therapiephase in der Lage sind, am Heilungsprozess mitzuwirken. Dann kann der Patient sich bemühen, …

Gabriele Stotz-Ingenlath:
… alte Muster, die vielleicht in diese Krankheit führten - irgendwelche selbstaggressiven Dinge oder so erlernte Hilflosigkeitsmuster oder regressive Tendenzen - zu erkennen, da auch hinzugucken unter therapeutischer Anleitung und versuchen, Positives dagegen zu setzen mit Anleitung. Das ist Arbeit am Ich. Der Patient soll Experte seiner eigenen Erkrankung werden. Und wenn ich kompetent bin in meiner Erkrankung, dann schaffe auch ich als Betroffener selbst letztlich den Ausweg.

Wie der an Depression Erkrankte kann auch der gläubige Mensch, den die Mönchskrankheit befallen hat, zu einer Art Spezialisten seiner Schädigung werden, damit er einem erneuten Angriff gewachsen ist. Mönche und Nonnen sehen die Herzensträgheit als eine Krisensituation, eine Bewährung des Glaubens, die sie bewältigen können und müssen. Weil sie ihre Existenz als geistlichen Kampf verstehen, sind sie auf solche Bedrängnis vorbereitet. Sie haben ein feines Sensorium für ihre Vorboten und ihre Erscheinungsformen entwickelt. Sie wissen aber auch, dass sie die Herzensträgheit nicht allein bewältigen können. Gleich depressiven Menschen müssen sie sich in ihrer Notlage anderen mitteilen und Hilfe suchen. Im Kloster sind es die geistlichen Begleiter, die dann raten, trösten und die Not mittragen. Das hilft den von der Herzensträgheit Befallenen, aus der Einöde ihrer Herzen herauszufinden. Und das erhoffen sich auch die von Depression Geplagten. Damit sie die Schwermut, wie sie Johannes der Täufer auf dem Bild von Geertgen tot Sins Jans erfahren hat, abstreifen und erkennen: auf sie wartet eine paradiesisch anmutende, sanft geschwungene Landschaft: dann, wenn der „Mittagsdämon“ vertrieben ist.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

  1. Polish National Radio Symphony Orchestra: Lento e largo – Tranquilissimo (Henryk Gorecki), CD-Titel: Gorecki - Symphony No. 3 - 3 Olden Style Pieces, Track Nr. 2.
  2. Fitzwilliam String Quartet: String Quartet No. 6 in G major, op. 101: Lento (Dmitri Shostakowich) CD-Titel: Shostakovich – The string quartets, CD Nr. 3, Track Nr. 6.
07.01.2023
Gunnar Lammert Türk