Pilgern vor der Haustür

Am Sonntagmorgen
Pilgern vor der Haustür
Der Seele Raum geben
05.07.2015 - 08:35
26.06.2015
Antje Borchers

Ich habe mich zum Pilgern angemeldet, zum „Pilgern vor der Haustür“. Der Pilgerweg beginnt nicht direkt vor meiner Haustür, ich muss in den Nachbarort Bad Salzuflen fahren. Aber das ist immerhin fast vor meiner Haustür – jedenfalls im Vergleich zum Jakobspilgerweg in Spanien.

Die Pilgerwanderung heute in Salzuflen beginnt weit hinten im Landschaftspark der Kurstadt. Thema des Wegs ist „Quelle des Lebens, Salz der Erde“. Monika Korbach, eine der drei Pilgerbegleiterinnen, begrüßt uns Pilgerinnen und Pilger.

 

Monika Korbach: Wir gehen von Quelle zu Quelle. Fünf Quellen werden wir besuchen auf unserem Weg. Es ist kein klassischer Stadtrundgang, es wird zwar ein paar Informationen geben zu den Quellen, aber in erster Linie verstehe ich diesen gemeinsamen Pilgertag als einen Gottesdienst zu Fuß.

 

Bevor unser „Gottesdienst zu Fuß“ beginnt, hören wir noch eine Regel zum Gruppenpilgern, nämlich: Eine der Pilgerbegleiterinnen, Iris Kruel, geht immer vorne, gut erkennbar an ihrem türkisfarbenen Anorak, und eine, Marlis Steffestun, bildet immer das Schlusslicht. Niemand geht vor der einen her, niemand bleibt hinter der anderen zurück.

 

Monika Korbach: Das machen wir immer so, damit auch niemand verloren geht. Ich werde mich irgendwo in der Mitte aufhalten und gucken, wo ich gebraucht werde… was ich aber nicht hoffe (lacht).

 

Unser Gottesdienst beginnt, wir brechen auf zu unserer ersten Quelle, dem Gustav-Horstmann-Sprudel. Der ist gleich hier hinten im Landschaftspark, die erste Pilgeretappe ist also kurz. Dieser Sprudel ist der tiefste, wärmste und salzigste Sprudel der Kurstadt, so erfahren wir. Vor 500 Jahren drohten er und die anderen Quellen Bad Salzuflens zu versiegen. Die Salzgewinnung stand in Gefahr und damit die Existenz vieler Menschen und der Wohlstand der Stadt. Die Menschen beteten, die Quellen mögen weitersprudeln. Was sie dann tatsächlich taten. – Ein schönes Sinnbild für die inneren Quellen, die auch bitte weitersprudeln mögen und uns stärken und erfrischen. Wir singen ein Lied, das wir während des gesamten Pilgerwegs immer wieder anstimmen – so wie die Mönche im Laufe eines Tages in ihren Stundengebeten immer wieder dasselbe Gebet beten.

 

Bewahre uns, Gott, behüte uns, Gott, sei mit uns auf unsern Wegen! Sei Quelle und Brot in Wüstennot, sei um uns mit deinem Segen! Sei Quelle und Brot in Wüstennot, sei um uns mit deinem Segen!

 

Monika Korbach: Wir sind keine Wandergruppe, wir sind eine geistliche Gemeinschaft auf Zeit. Wir werden an verschiedenen Stellen Lieder singen, Psalmen hören oder Gebete sprechen und auch ein kleines Stück schweigend gehen.

 

Ah, genau das habe ich mir beim Stichwort Pilgern vorgestellt: singen und beten, schweigen und gehen. Unsere geistliche Gemeinschaft auf Zeit ist recht groß: 38 Leute, mehr Frauen als Männer, Junge und Alte, auch ein Kind ist dabei. Pilgern – diese uralte Weise, sein Leben zu ordnen – Pilgern ist beliebt geworden. Der berühmteste Pilgerweg der Christen, der Jakobsweg in Spanien, ist dementsprechend voll in der Pilgersaison. So sehr es mich reizen würde, diesen alten Pilgerweg der Christen zu gehen… Menschenmengen könnte ich beim Singen und Beten, beim Schweigen und Gehen nicht gebrauchen. Außerdem hätte ich nicht die Zeit und das Geld, mich in Spanien auf den Pilgerweg zu begeben. So wie mir geht es offenbar vielen anderen auch. Darum, so sagt Monika Korbach, gibt es in ganz Deutschland mittlerweile Pilgerwege gleich um die Ecke. Monika Korbach verantwortet die Pilgerangebote in der Lippischen Landeskirche.

 

Monika Korbach: Das ist ein Projekt im Rahmen der Erwachsenenbildung. „Pilgern vor der Haustür“ ist modern geworden. Es entstehen Pilgerwege von Kirchengemeinden, von Landeskirchen, einfach, um Menschen vor der Haustür ein Angebot zu machen.

 

Hier in der Region Lippe-Detmold im malerischen Teutoburger Wald begeben sich viele Menschen auf Pilgerwege. Hat Hape Kerkeling uns mit seinem Pilgerbuch „Ich bin dann mal weg“ auf den Geschmack gebracht? Oder warum ist das Pilgern wieder so modern geworden?

 

Monika Korbach: In unserer Welt, in der immer mehr Menschen ihre Arbeitszeiten großenteils des Tages vor dem PC verbringen, muss es einen Ausgleich geben, einen Ausgleich zurück zur Natur, zurück zur Gemeinschaft, weg vom vereinzelten Arbeitsplatz. Das suchen Menschen bei uns auf den neu entstandenen Pilgerwegen.

 

Die Pilger im Mittelalter pilgerten, um am Zielort gesund zu werden, zum Beispiel in Lourdes. Oder sie pilgerten, um für Fehltaten zu büßen. Manche ließen sogar pilgern. Sie wollten Gott dadurch gnädig stimmen. Dass Gott längst gnädig ist, das hat der Reformator Martin Luther beim Bibelstudium wiederentdeckt. Wer heute pilgert, sehnt sich also nach ganz anderem:

 

Monika Korbach: Entschleunigung, in einer Gruppe unterwegs sein, die Kirchen als Orte der Ruhe und Kraft erleben, sonntags nicht alleine sein. Das heutige Pilgern ist die Suche nach Freiräumen für die Seele, in der wieder mal die eigene Existenz angeschaut werden kann oder die Existenz Gottes gefunden werden kann.

 

Hella Wiemann, eine Mitpilgerin, hat sich für den Pilgerweg durch Bad Salzuflen angemeldet …

Hella Wiemann: … um ein bisschen mehr über die Stadt kennenzulernen, das schon, und weil ich Pilgern eine faszinierende Form finde, mich auf den Weg zu machen.

 

Pilgern ist Beten mit den Füßen. Das erleben die Menschen auf dem alten Jakobspilgerweg nach Santiago de Compostela in Spanien. Und das erleben sie eben auch auf Lippischen Pilgerwegen, beim Pilgern vor der Haustür.

Lippe im äußersten Nordosten von Nordrhein-Westfalen bietet sich als Pilgerregion an. Liebliche Hügel, Wiesen und Wälder, Bäche und Getreidefelder, da geht einem das Herz auf und ein „Wie schön!“ oder „Danke Gott!“ drängt sich über die Lippen.

Und sogar eine Stadt eignet sich zum Pilgern, wie ich schnell merke. Wir lassen den Gustav-Horstmann-Sprudel hinter uns und pilgern durch den ausgedehnten Landschaftspark von Bad Salzuflen, die Vögel zwitschern, große alte Bäume spenden Schatten, wir überqueren das Flüsschen Salze und ich hänge meinen Gedanken nach. Diese zweite Etappe ist länger und allmählich lasse ich meine Seele baumeln. Langsam kommen wir zur nächsten Quelle: der Inselquelle im Kurparksee. Ich gehe vorne neben Iris Kruel und bei einem Blick über meine Schulter zurück sehe ich, wie sich unsere Pilgergruppe mit den 38 Pilgerinnen und Pilgern auseinanderzieht.

 

Iris Kruel: Das zieht sich auch mit wenigen. Das ist die Kunst, dass man für die Schnellen nicht zu langsam ist und die Langsamen trotzdem drauf vertrauen, dass sie mit ihrem Tempo mitgenommen werden und die vorne warten. Und wenn das klappt, ist alles gut. Mit der letzten Gruppe, wo wir da unterwegs waren, die sagte: „Das Wissen, dass die vorne wartet, hat mich nicht nervös gemacht, dass ich zu langsam wäre.“

 

Eine Pilgergruppe ist eben keine Wandergruppe, es geht nicht um Schnelligkeit. Wohlfühlen, zur Ruhe kommen, zu sich und zu Gott kommen, darum geht es.

Wir erreichen den Inselbrunnen im Kurparksee, er ist eine Bitterquelle, davon zu trinken hilft bei Störungen von Galle und Darm. Aber hier trinken wir nichts. Singen stattdessen unser Lied und ziehen weiter: hinein in den Kurpark mit seinen alten Bäumen, großzügigen Rasenflächen und gepflegten Blumenbeeten. Mittendrin plätschert die Salze. Am Leopoldsprudel bekommt jeder von uns einen Zettel mit einem Halbsatz aus Psalm 23. Immer zwei Halbsätze gehören zusammen. Wir müssen unsere Partnerin finden. Ich habe den Anfang des Psalms: Der Herr ist mein Hirte…

 

… „Okay.“ (Gemurmel) „Mir wird nichts mangeln“. – „Ich hab‘ ‘n Satzende.“ – „Er führet mich auf rechter Straße“. (Gemurmel). – „Mir wird nichts mangeln“.

 

Ich habe meine Partnerin gefunden. Wir suchen uns ein Plätzchen auf einer halbschattigen Bank und „lösen“ unsere Zweier-Aufgabe: Wir erzählen einander eine eigene kleine „Wassergeschichte“.

 

Monika Korbach: Die Geschichten scheinen kein Ende zu nehmen. Wir machen das oft beim begleiteten Pilgern, dass wir so zwei Menschen zusammenlosen, einfach, damit man mal jemand anders von der Gruppe kennenlernt und ein bisschen ins Gespräch kommt. Bevor wir zur nächsten Station weitergehen, singen wir jetzt die dritte Strophe unseres Begleitliedes.

 

Bewahre uns, Gott, behüte uns, Gott, sei mit uns vor allem Bösen! Sei Hilfe, sei Kraft, die Frieden schafft, sei in uns, uns zu erlösen! Sei Hilfe, sei Kraft, die Frieden schafft, sei in uns, uns zu erlösen!

 

Unsere nächste Station ist die Wandelhalle im Kurpark. Ein 50er-Jahre-Bau, aus den Blütezeiten des Kurortes. Heute ziemlich menschenleer. Aber: Hier gibt es endlich etwas zu trinken. Gehen und Singen und Reden macht die Kehle trocken.

 

Monika Korbach: Eine Pilgertour zum Thema „Quelle des Lebens“, die kann eigentlich nicht gehen, ohne dass wir auch Wasser zu uns nehmen. Jetzt haben wir aber nicht Bad Salzufler Wasser (Gelächter), sondern Bad Meinberger Wasser.

 

Gerne nehmen wir auch dieses Wasser aus dem anderen lippischen Kurort: Bad Meinberg.

Monika Korbach: Zum Wohle!

 

Unsere nächste Etappe gehen wir schweigend. Auf einer kurzen Etappe und mitten in der Stadt ist das nicht so ganz einfach. Aber Pilgerbegleiterin Iris Kruel gibt uns einen Tipp, wie wir es hinkriegen.

 

Iris Kruel: … dass wir zu den Gradierwerken gehen und da mal so ganz langsam und im Schweigen die Salzluft einatmen und mal gucken, was macht das mit uns, tut uns das gut oder nicht?

 

Es tut sehr gut. Das salzhaltige Wasser, das über den Schwarzdorn der Gradierwerke rieselt – jeweils neun Meter hoch und bis zu 80 Meter lang – erfüllt die Luft mit Nordseeluft, ich fühle mich wie im Urlaub. Tief einatmen! Und schweigend genießen.

Wir gehen laaangsam weiter, zum nächsten Thermalsprudel. Und weiter am Flüsschen Salze entlang, das hier als Wasserfall rauscht. Mit jedem Schritt kommen wir dem Stadtzentrum und dem trubeligen Stadtfest näher.

 

Stadtfest … Hallo, stopp, die Wandergruppe, stopp einmal! Links abbiegen, hierhin, bitte, hierhin! Hier sind Plätze, trinken Sie erst einmal ein Bierchen! Oaah, halloo!

 

Eine Pilgergruppe in der Stadt sieht eben doch einer Wandergruppe zum Verwechseln ähnlich. Wir freuen uns über die Einladung zum Bier, ziehen aber weiter zu unserer letzten Station, dem Paulinenbrunnen auf dem Marktplatz. Es ist nicht mehr weit, wie die Salzufler Mitpilger wissen. Mehr als die Hälfte unserer Gruppe ist aus Bad Salzuflen, sie pilgern heute also tatsächlich direkt vor ihrer Haustür. – Wie ist das? Hella Wiemann:

 

Hella Wiemann: Ich fand das großartig. Ich fand das sehr informativ und habe Dinge entdeckt, die ich als Salzuflerin noch gar nicht wusste und vorher nicht gekannt habe. Und ich fand das sehr wohltuend, mich ein Stück auch entschleunigt hier durch die Stadt auf den Weg zu machen, und fand auch sehr eindrücklich zu realisieren, welchen hohen Stellenwert das Salz hier in der Stadt hatte.

 

Hella Wiemann pilgert nicht zum ersten Mal. Am Pilgern schätzt sie drei Dinge: zur Ruhe zu kommen, ganz intensiv bei sich zu sein und zur Stille angeleitet zu werden. Das mit der Stille war dieses Mal allerdings so eine Sache. Unser Pilgerweg begann zwar beschaulich in der Natur, führte dann aber durch die Stadt und das trubelige Stadtfest. Wie fand sie das?

 

Hella Wiemann: Joa, das ist so mittelmäßig. Das ist denn schon manchmal ein Bruch. Aber es ist okay, ich wusste es vorher, ich war drauf eingestellt. Ich fand, das war jetzt aber eine ganz schöne Mischung, mit den Mitpilgerinnen und -pilgern mich auch auszutauschen, und dass wir zwischenzeitlich auch immer wieder zur Stille angeleitet wurden. Das war eine gute Mischung für mich.

 

Wir erreichen den Marktplatz, den „Salzhof“. Hier ist unsere letzte Station: die Paulinenquelle. Sie ist die älteste erschlossene Quelle und verdankt ihren Namen der früheren Fürstin Pauline zur Lippe.

Wir versammeln uns am Salzsiederdenkmal – dargestellt ist ein Salzsieder, wie er in einer flachen Siedepfanne von etwa 1,50 Meter im Durchmesser Salzwasser zum Sieden bringt und Salz gewinnt. Zur Erinnerung an unseren heutigen Pilgerweg „Quelle des Lebens – Salz der Erde“ erhält jede von uns ein Tütchen Salz.

Und einen irischen Reisesegen, den Monika Korbach spricht:

 

Monika Korbach: Möge Gott auf dem Weg, den du vor dir hast, vor dir hergehen. Das ist mein Wunsch für deine Lebensreise. Mögest du die hellen Fußstapfen des Glücks finden und ihnen auf dem ganzen Weg folgen. Das Grün der Wiesen erfreue deine Augen. Das Blau des Himmels überstrahle deinen Kummer. Die Sanftheit der kommenden Nacht mache alle dunklen Gedanken unsichtbar. Möge Gott das Wasser in deinem Brunnen nie versiegen lassen. Möge Gott das Salz in deiner Speisekammer nie ausgehen lassen. Möge Gott die Quelle deiner Wohltaten, die du anderen erweist, nie versiegen lassen. Amen.

Pilgern vor der Haustür, das war Urlaub für meine Seele. Danke! – Wir beschließen unseren „Gottesdienst zu Fuß“ mit unserem Pilgerlied:

 

Bewahre uns, Gott, behüte uns, Gott, sei mit uns durch deinen Segen! Dein Heiliger Geist, der Leben verheißt, sei ums uns auf unsern Wegen! Dein Heiliger Geist, der Leben verheißt, sei ums uns auf unsern Wegen!

26.06.2015
Antje Borchers