Zum Bilde Gottes schuf er ihn…

Ernst Barlach: Selbstporträt, 1928
Zum Bilde Gottes schuf er ihn…
Ernst Barlachs Bilder vom Menschen
21.06.2015 - 08:35
26.03.2015
Pfarrerin i.R. Angelika Obert

Ob Gott noch da ist, ob es ihn noch kümmert, was auf der Welt geschieht, das weiß Helander im Jahr 1937 nicht mehr. Seit die Andern gesiegt haben, ist der Pfarrer von Rerik sehr einsam. Aber eins weiß er: Er wird es nicht zulassen, dass die Nationalsozialisten den „Lesenden Klosterschüler“, die Holzplastik in seiner Kirche entfernen.

 

„Weil die Andern den „Klosterschüler“ angreifen, dachte Helander, ist er das große Heiligtum. Den mächtigen Christus auf dem Altar lassen sie in Ruhe, sein kleiner Schüler ist es, der sie stört. Das Mönchlein, das liest. Der ganze Riesenbau der Kirche wird um dieses stillen Mönchleins willen auf die Probe gestellt.“[1]

 

So Alfred Andersch in seinem Roman „Sansibar oder der letzte Grund“. Viele kennen ihn als Schullektüre. Der „Lesende Klosterschüler“ – eine Figur von Ernst Barlach wird hier zum Denkmal des freien Menschen. Es hat die Kraft, zum Widerstand zu befreien. Nicht nur den Pastor Helander, sondern auch den jungen Kommunisten Gregor, einen in Moskau ausgebildeten Parteisoldaten, der sich in dem Klosterschüler wieder erkennt: „So versunken habe auch ich gelesen in den Schriften von Marx und Lenin,“ denkt er und merkt dann doch gleich: Nein, dieser Klosterschüler hat eine andere Haltung als wir sie hatten:

 

Seine Arme hingen herab, aber sie schienen bereit, jeden Augenblick einen Finger auf den Text zu führen, der zeigen würde: das ist nicht wahr. Das glaube ich nicht. Er ist anders, dachte Gregor, er ist ganz anders. Er ist leichter, als wir waren. Vogelgleicher. Er sieht aus wie einer, der jederzeit das Buch zuklappen kann und aufstehen, um etwas ganz anderes zu tun.“[2]

 

Einer, der aufmerksam liest und doch kritisch bleibt – „wer so liest, ist gefährlich“, heißt es im Roman. Der „Lesende Klosterschüler“ gibt den Anstoß, dass Gregor künftig ohne Parteiauftrag handeln wird. Er wird nicht nur helfen, das Kunstwerk zu retten, sondern auch einen Menschen, Judith, die verfolgte Jüdin.

Eine Holzplastik, in der ein junger Mann sich wieder erkennt und zugleich das Gefühl hat: Da ist noch etwas Anderes, etwas mehr als ich bin – es ist wahr: Genau solche Werke wollte Ernst Barlach schaffen: ganz irdisch sollten sie sein und doch entrückt. So, dass etwas von Gottes Geist durch sie sichtbar würde.

Und wenn der „Lesende Klosterschüler“ in der Kirche von Rerik auch eine Erfindung ist, so trifft es doch zu: Die Nationalsozialisten haben Barlachs Menschenbildnisse nicht geduldet. Im Jahr 1937 wurden 400 seiner Werke aus den Museen entfernt. Auch das Mahnmal im Dom zu Güstrow, der schwebende Engel, wurde abgebrochen. Schon vorher hatte man das Ehrenmal für die Gefallenen des 1. Weltkriegs aus dem Magdeburger Dom entfernt. Und es waren leider nicht nur die Andern, die sich an der Hetze gegen Barlach beteiligten, es waren auch Pfarrer und Theologieprofessoren darunter. So schrieb einer:

 

Was Barlach schafft, scheint mir asiatisch – Asien als das Land erdverhafteter Stumpfheit und als das Land des Grauens. Dazu tritt frecher Spott über das Heilige und wilde Ekstase religiöser Inbrunst. So kann niemand Gott, den Schöpfer darstellen, der vor ihm letzte Ehrfurcht hat![3]

 

Auch den Christen war Barlach zu kühn. Auch sie mochten die Mahnmale nicht, in denen der Schmerz und das Grauen des Krieges nicht heroisch übertüncht waren. Und den Nazis galt er als undeutsch, zu slawisch, zu jüdisch – oder vielleicht doch einfach als zu frei. Zu unbeirrbar. Dabei war er doch gar kein so ganz moderner, abstrakter Künstler, war politisch wenig engagiert, viel zu sehr auf das Geistige bedacht, als dass er sich um’s Weltgeschehen ernstlich gekümmert hätte. Und trotzdem war seine Kunst für die Ideologen gefährlich.

 

Ich bin (...) 1870 an der Niederelbe geboren, lebte eine kleinbürgerliche Jugend, war oft mit dem Vater im Doktorwagen über Land in Bauernhäusern und -gütern. Hingegeben an das Leben von Regen und Wind, fühlte mein Sein im Sein von Wolken und Wäldern und Wassern..... wurde zünftiger Bildhauer ...und immer gedrängt, mich in Versen und Prosa höchst überschwänglich auszusprechen.“[4]

 

So hat sich Ernst Barlach in einem Brief selbst beschrieben. Er hat tatsächlich sehr viel geschrieben – Dramen, Romane und Briefe. Er war ein Denker und mochte Tätigkeiten, bei denen er allein mit sich war. Und er hatte Humor, was man kaum glaubt, wenn man die Fotos und Selbstporträts kennt, auf denen er immer etwas gramvoll wirkt. So gern er auch zur Feder griff, noch wichtiger war ihm das tägliche einsame Wandern bei Wind und Wetter. Denn es war wirklich so: Von klein auf fühlte er sich verbunden mit dem größeren Sein der Natur. In Wind und Wolken erlebte er den Atem der Schöpfung. Den scharfen, plastischen Blick hatte er gewiss schon als Kind – und dazu ein offenes Gemüt, das ihn manchmal eins werden ließ mit dem, was er sah:

 

„Beim Streifen durchs Fuchsholz aber fiel mir die Binde von den Augen, und ein Wesensteil des Waldes schlüpfte in einem ahnungslos gekommenen Nu durch die Lichtlöcher zu mir herein, die erste von ähnlichen Überwältigungen in dieser Zeit meines neunten bis zwölften Jahres, das Bewusstsein eines Wirklichen ohne Darstellbarkeit“[5]

 

Diese frühen Entgrenzungserfahrungen weisen ihm den Weg. Ärmlich findet er das alltägliche Leben mit seinem Geschwätz und seiner Geschäftigkeit. Er ist nur glücklich, wenn er über sein Ich hinauskommt. Ein ahnungsvoller Mystiker, das will er sein, aber zur Kirche bleibt er auf Distanz, denn in der Kirche wissen sie zu gut Bescheid über Gott. Er glaubt nicht, dass Gott mit menschlichen Begriffen zu fassen ist:

 

„Unpersönlichkeit, d.h. Unbegrenztheit muss das Wesen dessen sein, den ich nur ungern noch ‚Gott‘ nenne. Er ist der menschlichen Erfassung entrückt, aber fühlbar, etwa so, wie das Auge wohl den Sternenhimmel wahrnimmt, aber keinen Raum“[6]

 

Gott liegt jenseits dessen, was Menschen aussagen können, davon ist Barlach überzeugt. Trotzdem drängt es ihn, Gottes Wirklichkeit zu bezeugen, die für ihn ja erfahrbar ist – am stärksten in der Musik. Aber er ist ein Augenmensch, er muss das Unfassbare sichtbar machen und er glaubt auch an die Kraft der Bilder:

 

„Ja, wir brauchen Bilder, an die wir uns mit unsern Seelen halten können wie Fernrohre, in deren Gläsern sich die Strahlen der Unendlichkeit sammeln.“[7]

 

Es dauert, bis er seine Form findet. In jungen Jahren befasst er sich noch viel mit dem Schreiben, verdient sein Geld mit Keramiken. Die große Wende bringt eine Russlandreise im Jahr 1906. In der Weite der russischen Steppe erfüllt sich seine Sehnsucht nach sichtbarer Unendlichkeit. Ähnlich wie Rainer Maria Rilke berührt ihn auch die Einfachheit der russischen Bauern. In ihrer seelenvollen Ergebenheit findet er ein idealisiertes Gegenbild zur westlichen Lebensweise, zum bürgerlichen Rationalismus, den er nicht mag. Von den russischen Bauern lernt er, seine Gestalten in weite Umhänge zu hüllen. Ihn interessiert nicht die Schönheit des menschlichen Körpers, sondern die Linie, die Schwingung des Ewigen in der sichtbaren Gestalt.

Ernst Barlach nimmt es ernst, was in der biblischen Schöpfungsgeschichte gesagt wird: Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn“ (1. Mose 1, 27). Den Atem des Schöpfers, den er in Wind und Wolken, in der russischen Steppe und in der Landschaft Mecklenburgs erlebt, den will er auch in der menschlichen Figur zum Ausdruck bringen:

 

„Ich empfinde seit je und immer mehr die Einheit zwischen Schöpfer und Geschaffenem, das Gewordene ist die andere Gestalt des Schöpfers, sein Spiegelbild, der Augenblick ist ein verwandeltes Stück Ewigkeit“[8]

 

Aber in der Menschenwelt ist Gott für ihn der Verborgene, der sich nur da kundtut, wo der Mensch seine Bedürftigkeit erkennt. Gott am nächsten ist darum der Bettler. Immer wieder wird Barlach große Bettlerfiguren in Holz schaffen, sie sind für ihn die Ikonen der Menschlichkeit.

Und dann sucht er nach Gestalten der spirituellen Erfahrung: Wichtig ist ihm der Wanderer, in dem er sich auch selbst sieht. Der Wanderer ist für ihn der Prophet des Werdens, denn vor dem Ewigen kann sich der Mensch immer nur als ein Werdender verstehen. Er schafft Träumende, die wie Visionäre wirken, Lauschende und Singende, ekstatische Berserker und still Lesende, die ebenso entrückt wie innerlich frei wirken.

All seinen Figuren, so klar sie in ihren Konturen sind, merkt man es an, dass sie wie der Künstler selbst „über sich hinauswollen“ oder auch schon über sich hinaus sind – nicht überhöht, aber doch gewissermaßen geheiligt. Niemals denkt Barlach daran, das Geistige, an dem ihm so viel liegt, abstrakt darzustellen:

 

„Meine künstlerische Muttersprache ist nun mal die menschliche Figur oder das Milieu, durch das oder in dem der Mensch lebt, leidet, sich freut, fühlt, denkt.“[9]

 

Wie jeder tief religiöse Mensch findet sich auch Ernst Barlach angerufen und geführt von Dem, den er nur ungern noch Gott nennt, weil ihm das Wort zu klein erscheint für das Unnennbare. „Ich habe keinen Gott, aber Gott hat mich“ schreibt er einmal. Er versteht sein Werk als Antwort auf seine Erfahrung des Göttlichen. Und er glaubt, dass er diese Erfahrung in seinem Werk weitergeben kann – gerade als Bildhauer:

 

„Was sich nicht in Worten ausdrücken lässt, kann durch die Form verfügbar gemacht werden und in den Besitz eines andern übergehen.“[10]

 

 

Ernst Barlach war nicht der Einzige, der im frühen 20. Jahrhundert um das Wesentliche rang. Und er wurde auch keineswegs verkannt – im Gegenteil, um 1930 war er ein gefeierter Künstler, von Manchen wie ein Heiliger verehrt. Er mochte das nicht, verstand er sich doch bloß als suchender Mensch, nicht als wissender. Und trotzdem hat er die intensiven, erfolgreichen Jahre genossen. Bitter war es dann, wie schnell der Kult um ihn unter den Nazis umschlug in Verfemung und Verfolgung. Barlach, den das Getriebe der Welt ohnehin anwiderte, zog sich nun ganz zurück. Als letztes großes Werk schuf er im Jahr 1937 eine „lachende Alte“ – mit ihrem wilden Lachen verwehrte er den Verfolgern die Macht über sich. Die ganz große Katastrophe blieb ihm erspart, 1938 ist er gestorben.

Als nach dem Krieg vom deutschen Wahn nichts mehr blieb als Schuld und Scham, tat es wohl gut, Barlachs Bildern vom Menschen wieder zu begegnen: den Bildnissen einer unzerstörten Menschlichkeit. So wurde der „lesende Klosterschüler“ für Alfred Andersch zum Symbol eines nicht verführbaren Menschen, als er 1957 im Roman „Sansibar oder der letzte Grund“ seine eigene Biografie verarbeitete.

Und heute? Heute gerät Barlachs Werk schon ein wenig in Vergessenheit. Wie passt denn auch der „lesende Klosterschüler“ in eine Zeit, in der alle auf’s Smartphone starren? Wie passt die Gestalt des Bettlers zu Menschen, die längst darauf eingestellt sind, Leben als eine Frage des geschickten Managements zu verstehen?

Nur dass in diesem Menschenbild wohl etwas fehlt – Viele spüren’s noch, wenn sie vor Barlachs Engel im Güstrower Dom stehen oder seine Wanderer und Träumer betrachten.

 

[1] Alfred Andersch, Sansibar oder der letzte Grund, Zürich 1970 S. 28

[2] Alfred Andersch, Sansibar oder der letzte Grund, Zürich 1970, S. 38

[3] Lic.Dr..phil Hans Preuß, zitiert nach: H.Ruppel, I. Schmidt, Von Angesicht zu Angesicht, WdL 2, Neukirchen 1984,

[4] E. Barlach, Die Briefe, Bd. 2, zitiert nach Catherine Kramer, Barlach, rororo 1984

[5] E. Barlach, Ein selbsterzähltes Leben, hg. U. Bubrowski, e.a. Seemann, Leipzig 1997, zitiert nach E.B. Mystiker der Moderne, Hamburg, 2003

[6] E. Barlach, 1930, zitiert nach: E.Barlach, Mystiker der Moderne, St. Katharinen Hamburg 2003

[7] E. Barlach, Prosa I, zieitert nach Catherine Cramer, Barlach rororo 1984 s. 98

[8] Barlach zum Zyklus „Die Wandlungen Gottes“ zitiert nach E.B., Mystiker der Moderne, Hamburg 2003, S. 45

[9] E. Barlach, Güstrower Tagebuch, zitiert nach Catherine Cramer, Barlach, rororo 1984, S. 97

[10] Zitiert nach Catherine Cramer, Barlach, rororo Monografie Hamburg 1984, S. 131

26.03.2015
Pfarrerin i.R. Angelika Obert