Sterben in der Nachbarschaft

Bett im Krankenhaus

Gemeinfrei via unsplash/ Bret Kavanaugh

Sterben in der Nachbarschaft
Noch immer ein Tabu?
21.03.2021 - 08:35
21.03.2021
Cornelia Coenen-Marx
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"Am Sonntagmorgen" im Deutschlandfunk zum Nachhören und Nachlesen

 
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Mein Buch der Stunde kommt von Thea Dorn. „Trost“ heißt es - ein Buch für alle Untröstlichen. Ein Corona-Buch. Es erzählt die Geschichte von Johanna und ihrer Mutter, die nach einer Italienreise einsam im Krankenhaus stirbt. Johanna verzweifelt, sie wütet, schreibt an ihren alten Philosophielehrer: „Der Tod ist ein Inbegriff von roher, absoluter Macht“. Dass sie sich nicht verabschieden konnte, nicht noch einmal mit der Mutter sprechen, das war für Johanna eine unerträgliche Ungerechtigkeit.

Viele haben das so empfunden in dieser Pandemie. 70.000 Menschen sind gestorben - die allermeisten im Krankenhaus, auf der Intensivstation, im Pflegeheim. Angehörige fühlten sich „ausgesperrt“. Und die Pflegenden waren kaum zu erkennen, wenn sie das Zimmer mit Schutzkleidung und Maske betraten.

Das alles hätte ich mir bis vor einem Jahr nicht vorstellen können. 40 Jahre nach Beginn der Hospizbewegung geht es vor allem um die Auslastung des Gesundheitssystems, um Intensivbetten und Beatmungsgeräte, Medikamente und Hochleistungsmedizin, wenn wir über das Sterben reden. Angst und Einsamkeit haben wenig Platz, auch Trauer nicht.

„Trost“ finde ich in diesen Wochen in der Passionsgeschichte. Da findet der Tod nicht hinter verschlossenen Türen statt, sondern öffentlich, auf Golgatha. Da hat der Schmerz seinen Platz, die Schreie und die Tränen. Aber auch die zärtlichen Gesten der Liebe. Die Freundin, die Jesu Füße salbt. Das letzte gemeinsame Essen mit Brot und Wein. Die heimlichen Gespräche in der Nacht.

Mich erinnert das an die Anfänge der Hospizarbeit, der Sterbebegleitung. Damals, vor mehr als 50 Jahren, erschien ein Fotobuch von Elisabeth Kübler-Ross; es hieß „Leben, bis wir Abschied nehmen“. Die Bilder zeigen eine krebskranke Frau – von der Krankheit gezeichnet, aber schön geschmückt. Ein Krankenbett im Wohnzimmer mitten im Kreis der Freundinnen und Freunde, die gemeinsam alte Fotos ansehen.

 

So möchte ich sterben - bewusst, in Würde, umgeben von Menschen, die ich liebe. Und das geht nicht nur mir so: 80 Prozent der Menschen möchten so sterben. Aber auch ohne Corona sterben 75 Prozent in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen und nur 2-3 Prozent in Hospizen. Wie kann das sein? Darüber habe ich gesprochen mit Anke Reichwald, Geschäftsführerin bei Diakovere in Hannover mit dem Aufgabenbereich „Ambulante und stationäre Hospiz- und Palliativarbeit“.

 

Die meisten Menschen versterben, trotz anderer Wünsche, nicht in ihrem Zuhause. So müssen wir die Frage stellen, ob „Sterben zu Hause“ ein erfüllbarer Wunsch ist bzw. welche Voraussetzungen er erfordert. Dabei gibt es ganz unterschiedliche Gründe, warum Menschen zu Hause sterben wollen – so wie wir Menschen eben auch unterschiedlich sind.

Diejenigen, die in einem guten familiären Umfeld leben, möchten die engen Beziehungen nicht aufgeben. Das hat sicherlich auch viel mit Selbstbestimmung zu tun. Wann möchte ich schlafen gehen, wie lange möchte ich schlafen, darf ich meine Lieblingsspeisen wünschen… vieles, was zumindest in Krankenhaus- und Pflegeheimstrukturen nicht umsetzbar ist. Es ist aber auch die Angst vor Neuem – was erwartet mich dort? Hier weiß ich was ich habe, hier kenne ich mich aus… Nicht zuletzt spielen aber auch wirtschaftliche Überlegungen eine Rolle: Meine Rente ist für eine Pflegeeinrichtung nicht ausreichend – ich möchte meine Kinder aber finanziell nicht belasten.

 

Sterben möchte ich als Teil meines Lebens ansehen und, soweit möglich, auch bewusst gestalten. Wie unterschiedlich die Vorstellungen von Lebensqualität am Ende  sein können, hat mir Anke Reichwald erzählt:

 

Mir fallen zwei Patienten ein. Der erste, ein 65-jähriger Mann mit Bauchspeicheldrüsenkrebs, bekam von seinem Facharzt die Mitteilung, er solle jetzt ins Hospiz gehen, es sei nichts mehr zu machen. Der Schock saß tief – als ausgeprägter Familienmensch konnte er sich überhaupt nicht vorstellen, von Frau, Tochter und dem kleinen Enkelsohn fortzugehen. Wir haben nach einem ausführlichen Gespräch einen Plan für die häusliche Versorgung erstellt, der den ambulanten Pflegedienst, den Hausarzt und das Palliativteam eng vernetzte. Acht Wochen lebte er noch – man weiß nicht, wie viel Zeit ihm allein dadurch gegeben wurde, dass der kleine Enkel ständig um ihn war – aber man ahnt es! Bei diesem Patienten bestand die „Lebensqualität“ also in der Beziehung zu nahestehenden Menschen.

Der andere Patient, an den ich denken muss, ebenfalls an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt, ist noch recht beschwerdefrei, setzt sich aber sehr bewusst mit seinem Sterben auseinander. Er plant genau die Zeit, wenn er mehr Sicherheit und Hilfe in der der Versorgung benötigt und hat sich derweil ein Hospiz angeschaut. Er möchte, wenn es soweit ist, selbst entscheiden können, wohin er geht. Für diesen Patienten ist die „Wahrung der eigenen Entscheidungskompetenz“ also seine Lebensqualität.

Und ebenso unterschiedlich wie die Vorstellung von Lebensqualität sind die Bedürfnisse der Betroffenen: Eine Frau, die zu Hause kleine Kinder hat und selbst unter einem fortgeschrittenen Brustkrebs leidet, wird vor anderen Herausforderungen stehen als ein Mann, der im Alter von 76 Jahren an einem Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt.

 

Der Wunsch nach Lebensqualität am Ende des Lebens – das ist nicht nur eine persönliche Frage. Es geht auch um organisatorische und um politische Herausforderungen.

 

Wir wissen, dass Klinikaufenthalte oft die Folge mangelhafter Versorgung zu Hause oder in Alten- und Pflegeheimen sind. Ein Abbau von Krankenhauseinweisungen geht aus meiner Sicht nur mit einem Ausbau und der Re- Organisation ambulanter Versorgung. Die umfänglichen Finanzierungsmodelle ambulanter Versorgung, die nach Bundesländern völlig unterschiedlich aussehen, sind keinesfalls kostendeckend.

Ambulante Pflege ist aufgegliedert in einzelne Leistungen der Pflegeversicherung und der Krankenversicherung. Nur lassen sich schwerkranke und sterbende Menschen nicht in Einzelleistungen zerteilen! Häufig notwendige Maßnahmen der Schmerz- und Symptomkontrolle, wie das Anlegen und Befüllen von Schmerzpumpen, komplementäre Pflegemaßnahmen, das Legen von Nadeln zur Infusionstherapie – all diese häufig zwingend erforderlichen Maßnahmen finden wir nicht in den Leistungskatalogen. Wenn wir schwerkranke Menschen in ihrem Zuhause versorgen möchten, benötigen wir viel mehr Flexibilität.

Menschen in solchen Krisensituationen und Angehörige brauchen vor allem Sicherheit, Gespräche und die Vorbereitung auf möglicherweise eintretende Situationen. In den letzten Tagen und Stunden tritt zum Beispiel häufig die sogenannte terminale Unruhe auf - eine Situation, die große Angst verursacht und ohne eine Vorbereitung meist dazu führt, dass Angehörige den Notarzt rufen. So kommt es dann zu vermeidbaren Krankenhauseinweisungen. Die Angehörigen brauchen die Gewissheit, dass sie 24 Stunden an 7 Tagen in der Woche verbindlich jemanden erreichen können – die Gewissheit, dass bei Bedarf jemand zur Unterstützung kommen wird.

 

Es fehlt also an Geld, vor allem aber an Flexibilität und an Zeit. Die Corona-Pandemie zeigt das wie in einem Brennglas: In den Medien ging es meist um die Pflegeheime, aber die meisten Pflegebedürftigen leben zu Hause. Und gerade jetzt fühlten sie sich regelrecht vergessen. Zuletzt wusste keiner so recht, wie die Hochaltrigen zu Hause geimpft werden sollen - und ihre Angehörigen wurden zunächst überhaupt nicht bedacht. Dabei sind viele längst erschöpft. Im Lockdown kam der Pflegedienst oft seltener. Kinder und Enkel durften nicht mehr kommen, Nachbarn nicht mehr aushelfen.

Aber auch ohne Corona kommen viele an ihre Grenzen - zeitlich und auch finanziell. Viele Familien leben längst nicht mehr an einem Ort. Das hat dazu geführt, dass Menschen in stationäre Einrichtungen gehen, weil sie allein nicht mehr zurechtkommen. So oder so - die Hochbetagten und Pflegebedürftigen sind immer mehr von Exklusion betroffen. Und die Debatten um Corona und Pflegenotstand lassen die Ängste wachsen, dass wir nicht gut versorgt sind, wenn wir nicht mehr selbst für uns sorgen können.

Das ist der Grund, warum sich immer mehr „Sorgende Gemeinschaften“ zusammenfinden. Es geht um wechselseitige Unterstützung, und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen - für sich selbst, für andere und auch für die gesellschaftliche Entwicklung. In Seniorenwohngemeinschaften zum Beispiel oder in der Nachbarschaftshilfe. Einander aushelfen mit Einkäufen, bei Arztbesuchen oder einfach da sein, damit die Angehörigen einmal rauskommen. Der ehemalige Bremer Bürgermeister Henning Scherf gründete mit seiner Frau Luise und mit Freunden eine Wohngenossenschaft, eine Wahlfamilie aus mehreren Generationen. Scherf wirbt auch dafür, dass die Pflege endlich besser finanziert wird. Es müsse Schluss sein mit „sparen, sparen, sparen“. Und wir müssten das Tabu brechen und über das Sterben reden, sagt Scherf. „Das letzte Tabu“ heißt denn auch das Buch, das er zusammen mit Annelie Keil geschrieben hat. „Der Tod verlangt inmitten der jeweils besonderen Situation die Bereitschaft, sich dem Geschehen offen zu stellen“, schreibt er. „Nichts ist versprochen, aber vieles ist möglich. So merkwürdig es klingt: Kreativität ist gefragt.“  

 

Sterben darf kein Tabuthema sein. Das meint auch Anke Reichwald von der Diakonie:

 

Der Tod wird verdrängt – selbst in Zeiten von Covid-19. Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht – das sind wichtige Instrumente. Viel wichtiger erscheint mir jedoch, über die damit zusammenhängenden Fragen mit den Menschen ins Gespräch zu kommen, die uns nahestehen – und zwar am besten schon frühzeitig, in gesunden Tagen.

Wie lernen wir wieder mit dem Tod umzugehen? Wie fühlt sich das Sterben an und was passiert danach? Das sind Themen, die wir selten bei einem gemeinsamen Abend mit Freunden besprechen. Aber warum eigentlich nicht? Es geht nicht nur um die Dinge, die wir nicht möchten, die unterlassen werden sollen – es geht vor allem darum, was wir uns wünschen. Gerade wenn wir nicht mehr sprachfähig sind, ist es für die Pflegenden und Behandelnden – egal ob Angehörige oder Professionelle – sehr hilfreich, wenn sie um Vorlieben und Wünsche wissen.

Ich möchte hier Mut machen. Mit einem offenen Umgang, mit fachkundiger Symptomkontrolle, mit Zuwendung, Sicherheit und respektvoller Pflege erleben wir, dass Angst, Schrecken und der Wunsch nach Sterbehilfe oder Suizid kein Thema mehr sind! Oft formulieren es die sterbenden Menschen und auch ihre Angehörigen so: „Diese Wochen waren die intensivsten in unserem gemeinsamen Leben – es war eine gute und wertvolle Zeit“.

 

Menschen wollen zu Hause sterben können. Und die Zeit der Sterbebegleitung kann für alle intensiv und wertvoll sein.  Dafür braucht es nicht nur eine bessere Bezahlung der ambulanten Pflege. Es geht auch um die Frage, wie Arbeitsbiographien flexibler gestaltet werden können, um den Druck aus den Zeiten der Pflege zu nehmen. Es geht darum Nachbarschaften zu stärken. Und darum Menschen Mut zu machen, über Ängste und Unwissenheit zu sprechen. Was früheren Generationen selbstverständlich war, das müssen wir heute unter ganz anderen Bedingungen neu lernen.

„Mein Sterbeglück ist, dass ich die Beziehungen zu mir nahestehenden Menschen noch einmal ganz neu und wunderbar erlebe“, sagte die Theologin Luise Schottroff kurz vor ihrem Tod. “Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass in unserer durchgetakteten Welt so viel Zuwendung möglich ist.“ In der Zeit ihrer Krankheit war ihr FreundInnennetzwerk so zusammengewachsen, dass sie sich auch gegenseitig unterstützen konnten. Die „wenigsten Menschen wissen, dass Ohnmacht nur so lange schlimm ist, bis ich loslassen und mich in gute Hände geben kann.“ sagt die Sterbebegleiterin Monika Renz.“ (1)

Und davon erzählen die biblischen Passionsgeschichten: Von dem Glück, in guten Händen zu sein. Von einem Leben, das wir uns nicht vorstellen können. Der letzte Weg Jesu ist voll intensiver Begegnungen. Wenige wissen, dass die Passionsgeschichten der Kern des Evangeliums sind. Nicht Weihnachten, sondern Ostern ist das große Fest. Das tröstet mich – selbst in Corona-Zeiten.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

 

  1. Pavel Hrubes, Alba Chord, CD-Titel: Piano Impressions (FN 438)
  2. Pavel Hrubes, Alba Tiny, CD-Titel: Piano Impressions (FN 438)
  3. Pavel Hrubes, Alba Naughty, CD-Titel: Piano Impressions (FN 438)
  4. Pavel Hrubes, Alba Lyrical, CD-Titel: Piano Impressions (FN 438)
  5. Pavel Hrubes, Alba Romantic, CD-Titel: Piano Impressions (FN 438)

 

 

Literaturangaben:

 

  1. Renz, Monika, Hinübergehen. Was beim Sterben geschieht. Annäherungen an letzte Wahrheiten unseres Lebens, Freiburg i.B.: Kreuz-Verlag, 2013. 1. Aufl. 2011.
     
21.03.2021
Cornelia Coenen-Marx