Trösten, wie einen seine Mutter tröstet

Am Sonntagmorgen
Trösten, wie einen seine Mutter tröstet
Jes 66:13 – Zur Jahreslosung für das neue Jahr
03.01.2016 - 08:35
06.01.2016
Pfarrerin Christina-Maria Bammel

Heimweh: Sehnsucht hin zu den Orten, an denen es geborgen und freundlich gewesen ist. Schon Weihnachten war voll davon. Und oft war vom Heimweh nur noch das Weh zu spüren, nichts aber mehr von einem Heim. Alle Jahre wieder ist der Trostbedarf hoch.

Jetzt ist Weihnachten vorbei. Manch einer ist darüber erleichtert, weil die Stimmung der vergangenen Tage eher belastet als erfüllt hatte. Andere vermissen schon Krippe und Baum. Wo auch immer Herz und Seele hängen, mit dem Jahreswechsel drängt sich eine andere Zeitrechnung auf. Heimweh trägt sich ein ins neue Jahr als Sehnsucht. Sie schaut zurück nach dem, was gewesen ist. Und streckt sich aus nach dem, was kommen mag. Dazwischen ein Mensch auf der Suche. Für die Theologin Antje Sabine Naegeli zeichnet das Menschsein aus. Sie schreibt:

 

Das ist unser Los, Geborgenheit suchen zu müssen und dennoch heimatlos zu bleiben auf dieser Welt./ Immer werden, die er gezeichnet hat mit seinem Siegel, Fremde bleiben im Haus, das endlich ist./ Gesegnete Sehnsucht. Wie die Muschel die Perle umschließt, so verhüllt sich im Schmerz die Hoffnung./ Heimweh ist nichts als der Schatten des ewigen Hauses.

 

Nicht nur das Heimweh, auch das Zeitweh schmerzt. Es ist dem Heimweh ähnlich und gibt Klopfzeichen:

 

Deine Monate, Jahre, rutschen dahin. /Wo sind sie nur geblieben? Waren sie gut genutzt? Leider zu selten. / All die Umwege, mit denen du Zeit verloren hast. Nichts kommt zurück.

 

So ähnlich klingt die Stimme des Zeitenweh. Schmerzlich, unerbittlich weist sie hin auf die Lücke, die klafft zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Diese Lücke klafft im eigenen persönlichen Leben so sehr wie in der Welt. Für ganze Völker, deren Länder in Schutt und Asche liegen. So viel verloren. Nichts davon kommt zurück. Die Bilder vom Irak, von Afghanistan oder einst prunkvollen syrischen Städten malt das Zeitenweh vor Augen: Wie soll man da aufbauen? Neu anfangen? Mit wem? Die Einen tot, die Anderen geflüchtet. Werden sie je wieder zurückkommen?

Ein Prophet kennt sich aus mit diesem Graben zwischen Anspruch und Wirklichkeit, vor mehr als zwei Jahrtausenden. Er weiß um die Lücke zwischen einem trostlosen Alltag und dem, was Menschen ersehnen: Ein Leben ohne Angst vor der Zukunft. Ein Auskommen für die Familie. Nächte zum Durchschlafen ohne Alpträume. Der Prophet weiß darum angesichts seines eigenen zerstörten Landes. Die Geschichte hat sein Wissen bis heute nicht überholt: Nach Krieg, Verfolgung und Verwüstung baut sich kein Land, keine Stadt, keine Beziehung einfach wieder auf. Es braucht Generationen dazu. Und der Blick zurück in verlorene Zeiten schmerzt.

Der namenlose Prophet hat keine Durchhalte-Parolen. So bedrängend die Zeiten sind, er liefert keine Rezepte für raschen Trost. Alles, was er hat, sind Worte. Gottes Worte.

 

Freuet euch mit Jerusalem [.]! Freuet euch mit ihr, alle, die ihr über sie traurig gewesen seid. Denn nun dürft ihr saugen und euch satt trinken an den Brüsten ihres Trostes; denn nun dürft ihr reichlich trinken und euch erfreuen an dem Reichtum ihrer Mutterbrust. [.] Siehe, ich breite aus bei ihr den Frieden wie einen Strom und den Reichtum der Völker wie einen überströmenden Bach. Ihre Kinder sollen auf dem Arme getragen werden, und auf den Knien wird man sie liebkosen. Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet; ja, ihr sollt an Jerusalem getröstet werden. Ihr werdet's sehen und euer Herz wird sich freuen [.](Jes 66,11-4)

 

Der Gottesmann malt den Erschöpften im zerstörten Israel Bilder in die Seele von einem Trostland: Mütter nehmen in Frieden ihre Kinder auf den Schoß. Kleinkinder werden gestillt und liebevoll getragen. Friedlichkeit und Wohlstand, so weit das Auge reicht. Zärtliche und idyllische Worten sind es, aus denen die Jahreslosung für das neue Jahr 2016 gewählt wurde: „Gott spricht: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“

Den Kopf sollen alle heben, die es hören. Etwas anderes sehen als das Verlorene. Wie aber lassen sich erschöpfte, geknickte Menschen aufrichten?

In der Sprache der Bibel meint das Wort für “Trösten“ ein heftiges Ausatmen. Über 120 Mal spricht die Bibel davon. Trösten heißt: durchatmen lassen, den befreienden Stoßseufzer erlauben. Einer, der erst zum Ausatmen und dann zum Aufatmen bringt. Das ist einer, der tröstet.

Der Prophet lässt sich nicht von den dunklen Gedanken seiner Zuhörer mit in die Abwärtsspirale ziehen. Er tritt den Deprimierten entgegen, indem er sagt:

 

Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, spricht der Herr dein Gott. (55,7) [.] Auch wenn du sprichst: Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen. [.] Kann auch eine Frau ihr Kindlein vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und auch wenn sie es vergäße, so will ich dich doch nicht vergessen (Jesaja 49,14f).

 

Der Prophet aus dem Buch Jesaja im Alten Testament kann nicht alles wieder gutmachen. Das wissen ja alle, die an einem Verlust tragen. Geschichte lässt sich nicht einfach wenden. Generationen werden daran tragen.

Allerdings, so der Trostmann: Ändern kannst du deine eigene Haltung. Wage dich zu ändern, wenn du auf die Katastrophe vor den Füßen und in der Seele siehst. Wage zu erkennen, dass Gottes Gedanken anders sind als die trostlosen Rechnungen, die du dir vom Leben machst. Gott lässt sich nicht abbringen von dir. Er will seinen Trost in den traurigen Kopf und das leer geweinte Herz fallen lassen. So wie Regen und Schnee auf den ausgetrockneten Boden.

 

Jetzt tippt der Prophet Bilder an. Bilder von Mütterlichkeit, von starken Müttern allemal. Natürlich ist Trost nicht nur weiblich. Väter können auch trösten. Großeltern ihre Enkel, ja sogar Enkel ihre Großeltern. Freundinnen können das ebenso. Aber der Ur-Ton des Tröstens erwächst aus dieser ersten Beziehung zwischen einer Mutter und dem werdenden Leben in ihr – und später an ihr. Auf diesem Ur-Ton tröstet Gott.

 

Was macht diesen Ur-Ton des Tröstens aus? Ich denke an die Momente von Verlorenheit aus vergangenen Kindertagen. Ich höre, wie ältere Menschen mir von ihren eigenen Verlorenheiten erzählen und wieder das tief verletzte Kind von damals werden. Wie das war, als sich der Boden öffnete und die Gewissheiten davon rutschten. Im Krieg. Als der Vater schlug. Das Haus brannte. Die Oma starb. Das Gefühl bleibt, mit 12, 20 oder 80 Jahren.

Wer tröstet? Wer hält mit aus? Hält mich aus, wenn ich mich schwach und ratlos sehe. Stempelt mich nicht zu einer Überforderten. Klein wie ein Kind sein dürfen, ohne klein gemacht zu werden. Ein guter Tröster hält das aus.

 

So versuche ich es auch als Mutter zu halten. Bloß keinen billigen Trost anbieten, wenn Kummer erzählt und beweint wird. Bloß nicht darauf beharren: du bist doch schon groß… Bloß keine Indianersprüche. Den Schmerz nicht kleinreden.

Erst dann der zweite Schritt: An die Hand nehmen, dass die kleine Seele wieder auftreten kann, nachdem sie auf meinem Schoß ausatmen durfte. Das ist nicht einfach für die Kleinen. Bei den Großen wird das noch schwerer. Mancher Kummer liegt so tief, dass ein Ausatmen und Weitergehen unmöglich ist.

Zeitenweh und Heimwehspuren melden sich zum Jahreswechsel stärker als sonst. Kein Mensch kann ohne Trost leben. Erst der Trost zeigt, wie liebenswürdig jemand ist. Getröstete sind Umarmte Gottes.

Paul Gerhardt, Liederdichter und Pfarrer im 17. Jahrhunderts, hat das Jahr für Jahr immer wieder neu durchbuchstabiert. Persönlich und theologisch, in Kriegs-, Hunger- und Friedenszeiten. Er war selbst früh schon ein Waisenkind. Zum Jahreswechsel dichtet er:

So wie von treuen Müttern/ in schweren Ungewittern / die Kindlein hier auf Erden/ mit Fleiß bewahret werden, also auch und nicht minder/ lässt Gott uns, seine Kinder,/ wenn Not und Trübsal blitzen,/ in seinem Schoße sitzen.

 

„Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ Der Vers der Jahreslosung hat noch einen zweiten Teil: „Ihr sollt an Jerusalem getröstet werden.“ Jerusalem – in der Friedensvision des Trostpropheten kann die Stadt selbst heilen und aufatmen lassen. Jerusalem selbst ist die Mutter, von der der Trost für ein gedemütigtes und deprimiertes Volk ausgeht. Eines Tages wird die geschundene Stadt ihre verletzten Kinder wieder in Empfang nehmen.

Diese Hoffnung überlebte den namenlosen Propheten und viele Generationen. Und rabbinische Gelehrte sagten es weiter: Jerusalem wird zur Mutter, zu der alle wieder zurückkehren können.

Doch die Erfahrung der Geschichte zeigt, wie verwundet diese Mutterschaft ist. Heute, im endlosen Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern. Und immer wieder und so oft in den Jahrhunderten davor. Der Prophet ahnt, wie umkämpft, beschwert und belastet Jerusalem immer wieder sein wird im Lauf der Menschheitsgeschichte. Denn der Schmerz um diese Stadt lässt sich hören, selbst noch in den Hoffnungsworten:

 

Und über Jerusalem werde ich jubeln, spricht Gott. Und frohlocken über mein Volk. Und Weinen und Schreien wird nicht mehr zu hören sein. Dort wird es keinen Säugling mehr geben, der nur wenige Tage lebt, und keinen Greis, der sein Leben nicht vollendet. Und sie werden Häuser bauen und darin wohnen und Weinberge pflanzen und deren Früchte essen. (Jes65,19f.)

 

Zuletzt ist nicht Jerusalem die tröstende Mutter, sondern die Trostbedürftige. Die Stadt selbst bleibt auf die tröstende Mutter angewiesen; auf Gott.

Und doch ist es schwer, den heilenden und segnenden Seiten eines mütterlichen Gottes zu trauen.

 

Manchmal, Herr, steht alles auf in mir gegen dich. Wozu mühe ich mich ab, dich zu suchen, wenn du mir dennoch so rätselhaft, so fremd bleibst und meine Sehnsucht nach Nähe und Vertrautheit ungestillt lässt? Manchmal, Herr, denke ich, dass du deine Menschen hoffnungslos überforderst, wenn du blindes Vertrauen erwartest und den deinen nichts ersparst an Schwerem. Manchmal, Herr, verstumme ich, weil ich nichts vernehme als dein Schweigen, obwohl ich ganz ausgehungert bin vor Verlangen nach deiner Antwort auf mein erschrockenes Fragen. Manchmal, [.] nehme ich mir vor, ohne dich weiterzugehen; und: immer kehre ich zu dir zurück. Es ist ja nicht wahr, dass ich dein Nahesein nie erfahren habe. Du bist ja doch mein Gott[.] Ich will zulassen, dass mein Weg mit dir auch den Schmerz einschließt.

 

Auch wenn die Tiefe zieht, und Bodenlosigkeit droht – es ist die Kunst Gottes zu trösten. Jetzt, von einem Jahr zum andern. Und von einem Tag zum nächsten.

 

Verborgen hinter dunkler Wolke bist du mir, Gott. Aber manchmal dringt etwas ein wie Licht, berührt mich Wärme, und ich tauche ein in ein Meer von Trost. Kein Fragen mehr, das mich aufzehrt. Du bist da, das ist genug./ Festhalten möchte ich solche Augenblicke, aber es gibt kein Haben. Schon verdichtet sich wieder die Wolke bis hin zur Undurchdringlichkeit. Genug, dass der Widerschein des Ewigen mich gestreift hat; ich bin getröstet, unter meiner Last erstarkt, und im Dunkeln singe ich dir ein Lied.

06.01.2016
Pfarrerin Christina-Maria Bammel