Erfühlen, was fehlt (Ernesto Cardenal)

Wort zum Tage
Erfühlen, was fehlt (Ernesto Cardenal)
20.01.2015 - 06:23
05.01.2015
Pfarrer i.R. Michael Becker

Er war ein Held meiner Jugend. Dann meines Studiums. Er ließ die Welt nicht in Ruhe. Selbst im Zorn ist er noch zart, der katholische Priester Ernesto Cardenal aus Nicaragua. Heute wird er 90 Jahre alt. Und lässt die Welt immer noch nicht in Ruhe.

 

Hört mich, alle Völker, dichtet er wie ein Prophet, merkt auf, ihr Weltbewohner: das Leben lässt sich nicht mit einem Scheck kaufen. (nach Psalm 48)

 

Ernesto Cardenal war so anders damals als unser Wirtschaftswunder, unser Aufschwung. Er war einfach gekleidet, freundliches Lächeln, zeigte einen tiefen Glauben – und manchmal war er voller Entsetzen über alle, die mit ihrem Geld winken und meinen, sich die ganze Welt und ihr Leben einfach kaufen zu können. Das hat mich beeindruckt. Es war aber keine blinde Wut in ihm, es war ehrlicher Zorn mit ruhiger Stimme. Zorn, der sich nicht aus der Ruhe bringen ließ. Man darf die Welt nicht in Ruhe lassen. Herumbrüllen aber nützt nichts. Also nahm er seine Gitarre und sang vom Gott des Friedens und der Menschlichkeit. Seine Mütze behielt er meist auf dem Kopf. Und zeigte damit eine gewisse, ja, Gemütlichkeit im Zorn. Leben kann man nicht kaufen, sagt Ernesto Cardenal. Liebe auch nicht. Alle Menschen, schreibt er (in: Das Buch von der Liebe), haben in sich eine innere Kammer, einen Raum, zu dem nur Gott Zutritt hat: das eigene Gewissen. Das kann Ruhe geben. Dann fühle ich mich wohl. Mein Gewissen kann mich aber auch mal nicht in Ruhe lassen, als klopfe jemand in mir gegen eine Tür. Dann will ich dem nachgehen und suchen, was genau mich beschäftigt. Bin ich mit mir im Reinen? Habe ich getan, was ich tun muss? Was Gott von mir will? Ist meine Ruhe echt oder beruhige ich mich durch Wegsehen und Weghören?

 

Gott ist nicht egal, wie ich lebe. Manchmal klopft er bei mir an. Dann rührt sich mein Gewissen, wie auch immer. Es hilft, wenn ich das nicht überhöre oder übersehe. Gott lässt mich nicht einfach schalten und walten, wie ich will. Er sucht mich, fragt mich und schickt mich auch auf Wege, die ich womöglich nicht wollte. Zum Glück. Da lerne ich: Leben ist mehr, als was ich will. Leben ist auch, die Welt besser zu machen. Ein bisschen. Nur meine Welt. Doch, das geht, sagt mein Gewissen. Wenn ich erfühle, was fehlt. Wenn ich nicht für mich behalte, was ich geben kann.

05.01.2015
Pfarrer i.R. Michael Becker