"Das Leben ins Gebet nehmen"

Evangelisch-reformierte Kirche Hinte

"Das Leben ins Gebet nehmen"
Gottesdienst-Live-Übertragung aus der Evangelisch-reformierten Kirche Hinte
06.03.2022 - 10:05
26.11.2021
Steffi Sander
Über die Sendung:

Psalmen nehmen das Leben ins Gebet - lebensnah und poetisch. Pastorin Steffi Sander spricht in ihrer Predigt Sätze aus Psalm 91, die auch in der aktuellen Krise in der Ukraine helfen können. Der Chor "Hintermezzo" unter der Leitung von Petra Burmeister singt u.a. Psalmen.

 

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Predigt zum Nachlesen
 

I Steffi Sander/ Keno Klüver

Wer unter dem Schirm des Höchsten wohnt

Wer im Schatten des Gewaltigen die Nacht verbringt

Der sagt wie ich über den Herrn:

» Meine Zuflucht ist er und meine Burg,

mein Gott, dem ich vertraue!«

 

Auf dem Nachttisch neben ihrem Bett liegt ein kleines Büchlein. Sie hat es selbst geschrieben. Von Hand.

Gewachsen über viele Jahre. Seite für Seite.

Blaue Tinte auf beigem Papier. Der Titel ziert den Umschlag: „Trostbüchelein. Zwiesprache mit Gott.“

Die Buchstaben sehen aus, als hätte sie sie nicht geschrieben, als hätte sie sie gemalt.

Es sieht nach echter Liebe aus.

Das Dach vom T -Trostbüchelein- ist weit nach rechts gezogen. Am Ende geht es mit Schwung gen Höh.

Sieht ein bißchen aus wie ein weit ausgestreckter Flügel.

Und die anderen Buchstaben aneinandergereiht finden Schutz darunter.

 

Der Herr breitet seine Schwingen aus über dir.

Unter seinen Flügeln findest du Zuflucht.

 

Sie hat ihre Gedanken notiert. Gebete draus formuliert. Das alles vor Gott gelegt. Persönliches hat sie dabei vereint mit Vertrautem, Altem, Gutem. Manches hat sie schlicht zitiert. Von Menschen, die schon vor ihr Gott gesucht, mit ihm gesprochen, zu ihm gebetet haben. Psalmen zum Beispiel. Und Choräle. Kindergebete von früher. Neulich hat mir die alte Dame ihr Büchlein gezeigt. Sie lag im Bett.

Ich saß auf einem Stuhl davor. Mit warmer Stimme sagte sie: „Wissen Sie, ich berge mich in diesen Worten. Seit Jahrzehnten lege ich mein Leben ins Gebet. Genauer: Seit dem Krieg. Seit ich ein junges Mädchen bin. Lange ist das her. Doch: Ich kann mich noch erinnern. Vielleicht - und das ist wirklich wahrhaft möglich - wär ich ohne mein Beten schon lange nicht mehr hier.“ Sie streicht mit ihrer zarten, blauädrigen Hand über den längst vergilbten Einband und legt mir das Büchlein in meine Hand.

Die Ecken sind ausgefranst, als dränge der Inhalt von sich aus nach außen. Als wolle er sich öffnen. Als wolle er hinaus. Es funktioniert! Mir geht er an diesem Morgen bei ihr tief in mein Herz. Das erste, das ich lese - sie muss zum Zeitpunkt der Notiz ungefähr acht Jahre alt gewesen sein:

April 1943. Mutter weint. Seit Tagen. Und es kommt noch immer Wasser aus ihren schönen Augen. Gott - Hirte, Schutz, Schirm! Kannst Du sie trösten?

 

Komm, hilf uns hier. Zuflucht. Burg. Gott. Birg uns in Dir.

Wir sind stille eine ganze Weile. Hocken einfach beieinander. Ich breche vorsichtig das Schweigen,

sage: 1943 - der Krieg…

Sie sagt: „Die Bomben fielen. Und die Väter. Und die Tränen. Das Leben hat uns nicht gefallen.

Doch Gott hat uns geholfen. Hat uns aufgefangen.

Wissen Sie, heut weiß ich: Wir haben uns zu ihm gebetet.

Und Er hat seine Schwingen weit, weit ausgebreitet.“

 

Ja, du sagst wie ich:

» Der Herr ist meine Zuflucht!«

Beim Höchsten hast du ein Versteck gefunden.

 

 

 

Eine Weile sitzen wir noch beieinander. Erzählen.

Lesen miteinander das eine, das andere aus ihrem Trostbüchelein.

Sie sagt, sie nehme es zur Hand. Zurzeit gar häufiger als sonst. Die Pandemie mache ihr zu schaffen. Die Einsamkeit. Die Sorge, klar. Ihr Enkel sei nun infiziert.

Und ihre Stirn ziert Angst. Was wohl noch alles passieren wird? Fragt sie.

Krieg? Frieden? Frieden? Krieg?

Ach, würden wir doch nur Frieden kriegen. Auf Seite sieben hat sie Psalm 91 niedergeschrieben.

Mit zittriger Schrift darunter:

Zu beten, wenn Du einmal nicht schlafen kannst.

Die Buchstaben sind arg verblichen. Sie muss diese Seite oft, sehr oft gelesen haben…

 

So viele können zurzeit nicht schlafen.

Weil es sich auf der Flucht kaum schlafen lässt. Weil es sich in kriegsdurchfurchter Nacht kaum ruhen lässt.

Weil es laut ist in uns, wenn die Not zum Himmel schreit.

Weil die Bewahrung des Friedens Wachsamkeit verlangt.

Ich kenn einen Soldaten, der hat Angst.

Und seine Mama auch…Und eine andere weiß nicht,

wie sie ihren Kindern das alles erklären soll. Sie sind alle nachts wach…

Und eine ist entrüstet. Und nebenan wird aufgerüstet.

Wir rüsten uns für das Schlimmste - steht groß in der Zeitung. Und ich spüre an mir selbst und in der Welt:

Nicht nur an den Grenzen kommen Menschen an ihre Grenzen.

 

Die alte Dame unterbricht mein gedankenvolles Schweigen. Nimmt meine (junge) Hand in ihre (alte). Sie sagt: Komm, Kind, wir beten.

Wer mich anruft in der Not, den will ich erhören.

Ich bin bei dir.

Und so legen wir Ihm an diesem Morgen alles hin.

Es sprudelt nur so aus uns heraus. Eigene Worte, gestammelte. Fertige, wohlvertraute.

Nach dem „Amen“ sagt sie: „Ja, die Not lehrt beten.

Es stimmt nicht, wenn die Jungen sagen, das Gebet sei aus der Zeit gefallen. Wir haben es nötiger denn je. …Und einen Gott, der hört!“

 

II Steffi Sander/ Keno Klüver

 

Psalm 91 - ein Gebet tiefen Vertrauens.

Verse - durchtränkt von Lebenserfahrung und Angst.

Wie gefährdet, wie gefährlich Leben sein kann.

Wie scheinbar plötzlich Leben bedroht, bedrohlich sein kann. Und wie ein Drama -doch manchmal lange im Voraus angekündigt… sodann dennoch plötzlich erscheint.

Den Betenden des Psalms ist das vertraut. Sie kennen die Not. Und ihr Gebet, millionenfach schon vor uns gebetet setzt der Lebensangst - auch der, die wir derzeit erfahren - etwas Großes entgegen.

Das Größte wohl: Gott.

 

1 Wer unter dem Schirm des Höchsten wohnt

Wer im Schatten des Gewaltigen die Nacht verbringt

2 Der sagt »Meine Zuflucht ist er, meine Burg,

mein Gott, dem ich vertraue!«

 

Wie viele sind es, die Schutz und Schirm suchen in diesen Tagen? Die nichts mehr sehnen als eine feste Burg. Frieden. Zufluchtsort. Wie viele sind es, die die Nächte und die Tage nicht im Schatten des Gewaltigen, sondern im Schatten der Gewalt verbringen?

Der fallenden Bomben, der schießenden Pfeile tief ins Mark hinein? Wie viel Blutvergießen ist? Wie viel echtes, warmes Blut da fließt? Wie viele Tränen fallen?  Wie viele Väter? Frauen, Kinder, Söhne, Töchter?

Ich mag es fast nicht denken. Und denke doch an die, die zitternd ihre Hände falten. Ich falte meine Hände mit.

Wir alle beten für den Frieden.

Landauf landab. Mit eigenen Worten. Mit gesuchten, gestammelten, flehenden. Mit fertigen, geliehenen, millionenfach durchbeteten.

Wir nehmen das Leben ins Gebet. (!)

Unsere Gedanken, unsere Gebete, unsere Herzen sind bei den Menschen in der Ukraine.

Bei denen, die ihr Obdach lassen. Fliehen, ohne zu wissen:

Wohin? Was kommen wird?

Unsere Gedanken, unsere Gebete sind bei denen, die diplomatisch, friedensbewegt durch diese Zeiten gehen.

Sind gar bei denen, die machtgierig, herzlos, kaltblütig 

dafür verantwortlich sind, dass Blut vergossen wird

und Herzen nicht mehr schlagen.

Mögen sie Einsicht haben. Liebe, Demut, Frieden üben.

Wir nehmen das Leben ins Gebet.

Das - kann uns niemand nehmen.

 

Ich bin in diesen Tagen wie schon so oft in meinem Leben aus der Tiefe meines Herzens dankbar für das kleine Trostbüchelein der Bibel. Für die Psalmen. Millionenfach durchbetet in unseren Gottesdiensten, hoffnungsvoll seit Jahrhunderten gesungen beheimaten sie jede erdenkbare menschliche Emotion.

Sie atmen die Not, sie fassen die Klage in starke Worte.

Gott sei Dank nicht minder die Hoffnung. Auch die Freude.

Wenn alles fällt um uns herum, die Sicherheit uns Vögel noch ihr Loblied singen:

Gott hält, was er verspricht. Streckt weit (weit) seine Flügel aus. Dass wir in seinem Schutze sicher ruhn.

Aneinandergereiht, zusammengerückt hocken wir unter seinem Trost:

Das Dach vom T beim Trostebüchelein- nach rechts, nach links gen Osten und gen Westen weit hinausgezogen!

 

Der Herr breitet seine Schwingen aus über dir.

Unter seinen Flügeln findest du Zuflucht.

 

Ich möchte Euch aus Hinte erzählen. Aus unserem Ort hier in Ostfriesland kurz hinter Emden. Und wie wir hier als ein winziger Teil dieser großen Welt auf sehr besondere Weise seit Beginn der Pandemie und jetzt noch einmal intensiver miteinander und mit Gott verbunden sind. Im Gebet. Manchmal am Abend. Manchmal zu Mittag. Meistens am Morgen. Wenn das Schaffen und das „Funktionieren müssen“ naht.

 

Am Morgen. Wenn Dir dämmert: Ein neuer Tag. Du reibst Dir Deine Augen. Weit draußen auf dem Feld hinter der Stadt hat die Sonne schon vor Stunden ihren Anker in den Tag geworfen. Dich hält die Nacht noch etwas fest. Ganz gleich wie du geschlafen hast. Und die Gedanken, sie wandern schon im Tag. Wie wird er werden? Was er wohl bringen mag?

Wie steht es heute um die Ukraine? Und wie ist es um die bestellt, die ich so sehr liebe?

Werde ich alles schaffen heut? Wo ist das gestern hin? Was gibt es Neues in der Welt? Wie ist die pandemische Lage? Und wie die Lage der Nation?

Da mischen sich schon früh am Morgen die großen mit den kleinen Fragen, die Dir genauso wichtig sind:

Was wird der Arzt nachher wohl sagen? Wie geht es meinem Kind?

Die Bettdecke ist warm. Selbstverständlich ist sie nicht…

Und bald schon schlägt der Tag sie auf. Wir hier in Hinte beten seit Beginn der Pandemie verbunden übers Netz über unsere Smartphones am Morgen oft gemeinsam.

Auf Bettkanten hockend beten wir. Jeder bei sich. Und doch gemeinsam: Ein Bettkantengebet. Einer schickt was los. Alle beten mit. Wir hocken auf unseren Bettkanten, die wir seit zwei Jahren liebevoll Bettkante nennen. Noch gar nicht richtig wach sprechen wir mit Gott. Auf der Kante zwischen Tag und Nacht und Nacht und Tag. Zwischen Angst und Hoffnung. Teilen alles miteinander. Und vor dem Fenster singen Vögel. Als stimmten sie mit ein. Sie zwitschern. Sie klagen. Manchmal klingt es fast wie Schreien.

Und wir, wir schreien in diesen Tagen leise mit – oder laut manchmal.

Die Ukraine so fern - und doch so nah. Das Elend so groß - trotzdem soll Hoffnung da sein. Gestern schrieb mir eine, sie nähme ganz entgegen ihrer Gewohnheit zurzeit manchmal mitten am Tag auf ihrer Bettkante Platz.

Dann falte sie die Hände schließe die Augen. Ist ganz für sich. Mit ihrem Gott. Und legt ihm alles hin. Sie legt ihr Leben ins Gebet. Und diese ganze wunderbare, wunde Welt.  Wir haben noch lange nicht genug gebetet. Mit eigenen, gestammelten Worten. Mit fertigen, millionenfach Durchbeteten. Die Ecken der Trostbücher der ganzen Welt stehen ab. Der Inhalt drängt hinaus. Und unser Rufen dringt gen Himmel. Einer hört. Er spricht:

 

»Wer mit Liebe an mir hängt, den will ich erretten!

(Ich beschütze, wer meinen Namen kennt.)

Wer ruft, dem antworte ich. Ich bin bei dir.“

 

Amen

 

Es gilt das gesprochene Wort.

26.11.2021
Steffi Sander