Begnadet, nicht begnadigt.

Tova Heilprin: Juden, Christen und Muslime im Gebet zu dem einen Gott

Tova Heilprin: Juden, Christen und Muslime im Gebet zu dem einen Gott

Begnadet, nicht begnadigt.
„Rechtfertigung der Gottlosen“ – ein altmodischer Begriff von überraschender Aktualität
14.06.2015 - 07:05
02.04.2015
Pfarrer i.R. Rainer Stuhlmann

Usi, ein Jude in Israel, Anfang dreißig, interessiert sich für unser Dorf Nes Ammim im Norden Israels, wo ich seit fast vier Jahren lebe. Er ist erstaunt, dass Christen aus Europa dorthin kommen, um vom Judentum zu lernen und so ihre eigene Religion, das Christentum, besser zu verstehen. Je mehr ich von unserem Projekt erzähle, desto mehr erzählt er mir von seiner Lebensgeschichte. Die ist überhaupt nicht typisch für einen Juden. Was Usi berichtet, lässt mich mehr und mehr staunen.

 

„Seit etwa zwei Jahren hat sich mein Leben total gewandelt. Schon immer war ich sehr leistungsorientiert. Meine Mutter ist Lehrerin. Sie hat aus mir einen guten Schüler und einen erfolgreichen Studenten gemacht. Mit besten Examen. Stets hat sie mich angespornt. Faulheit kannte ich so wenig wie Langeweile. Ich fühlte mich gut und wollte immer noch besser werden. Mehr Fehler vermeiden. Mehr bringen.

Aber auf der anderen Seite konnte ich schlecht mit Frust umgehen. Wenn ich in Kleinigkeiten scheiterte, waren das für mich große persönliche Katastrophen. Viel zu lange war ich nach meinem Studium auf Job-Suche. Was ich studiert habe, war im Berufsleben wenig gefragt. Meine Unzufriedenheit machte schlechte Laune. Und schlechte Laune erhöhte meine Unzufriedenheit. Ich wurde mehr und mehr unglücklich.

Und das ist seit zwei Jahren total anders. Der Grund für diesen Wandel wird dir vielleicht seltsam vorkommen. Ich bin nämlich religiös geworden. Ich habe als Jude zwar immer an Gott geglaubt, aber ich habe meinen Glauben nicht praktiziert. Meine Familie ist ganz säkular. Wir haben nicht gebetet und sind nicht zur Synagoge gegangen. Wir haben weder die Speise- noch die Schabbatgebote gehalten. Seit ich die Religion entdeckt habe, fühle ich mich besser und bin glücklicher.“

 

Usi ist kein Christ geworden. Er ist auch nicht einer der jüdischen Frömmigkeitsbewegungen beigetreten, die säkulare Juden zu religiösen machen wollen. Usis Religion ist nicht durch Aussehen und Kleidung sichtbar geworden. Er trägt weder Kippa noch Schläfenlocken.

Das wichtigste Stichwort, das immer wieder kommt, wenn wir über Glauben sprechen, heißt: abgeben. Abgeben. Das ist für ihn, seine Herkunft und seine Prägung, die schwierigste und zugleich wichtigste Lektion, die er immer wieder zu üben hat. Entscheidungen abgeben, um neue Erfahrungen zu machen. Verantwortung abgeben, um anderen zu trauen. Aufgaben abgeben, die nicht von ihm gefordert sind, die ihn überfordern.

 

„Ich musste lernen, dass ich nicht der Regisseur meines Lebens bin. Ich muss jeden Tag üben, los zu lassen, abzugeben, etwas kommen zu lassen, statt es machen, produzieren oder herstellen zu wollen. Und dabei habe ich die Erfahrung gemacht: es funktioniert. Es gelingt. So fühle ich mich entlastet und befreit. Mein Leben konnte noch einmal beginnen. So konnte ich zu meinem Rhythmus, zu meinem Tempo finden. Statt zu seufzen unter dem, was ich nicht schaffe, freue ich mich an dem, was gelingt. Noch nie hat mein Leben so viel Freude gemacht, obwohl nach wie vor auch Scheitern und Misslungenes zu verkraften sind.“

 

 

Usis Geschichte erinnert mich an die Großen der Kirchengeschichte: Augustinus und Luther. Aurelius Augustinus war einer der bedeutendsten christlichen Theologen in der Antike. Aber die ersten Jahrzehnte seines Lebens hat er vergeudet. So sieht er es im Nachhinein. Erst als er entdeckt, dass sein Leben ein Geschenk ist, weiß er es zu schätzen. Er lernt dankbar zu sein und das hilft ihm, sein Leben mit Gewinn zu gestalten. Dass das ganze Leben ein Geschenk ist, das musste auch Martin Luther erst lernen, nachdem er Jahrzehnte damit zugebracht hat, sich Gott gegenüber zu beweisen und zu behaupten. Die Wende ihres Lebens haben beide, Augustin und Luther, ähnlich beschrieben: Sie haben begonnen, abzugeben, loszulassen. Sie haben begonnen zu glauben.

Sie haben gelernt, Gott den Regisseur ihres Lebens sein zu lassen. Gott recht zu geben, statt sich selber ins rechte Licht zu rücken. „Rechtfertigungslehre“ heißt dieses Kapitel in der christlichen Dogmatik. Glauben, dass Gott uns gerecht wird, dass der Schöpfer schenkt, was wir, seine Geschöpfe, zum Leben brauchen. Vertrauen, dass wir Gott recht sind, wie wir sind mit unseren Ecken und Kanten, mit unseren Fehlern und Macken. Glauben, dass Gott uns bejaht, bevor wir ja oder nein sagen können. Vertrauen, dass Gott uns liebt, bevor wir Gutes tun und Böses lassen können.

Die andere Seite dieses Glaubens ist Freiheit. Usi kann von seiner neu gewonnen Freiheit geradezu schwärmen.

 

„Wieviel Zeit habe ich früher damit vertan, meine Unzufriedenheit zu bearbeiten! Wieviel Kraft hat es mich gekostet, unvermeidbare Fehler zu vermeiden! Jetzt feiere ich alle sieben Tage den Schabbat als Fest der Freiheit. An diesem Tag lass ich meinen Alltag mit all seinen Pflichten los. Eine heilsame Unterbrechung. Das hat mich gelehrt, das Leben zu genießen. Mit Höhen und Tiefen. Und das lässt mich an den übrigen sechs Tagen umso effizienter arbeiten. Ich habe gelernt, mich selber zu lieben trotz meiner hässlichen Seiten, die ich nicht leiden kann. Jetzt kann ich geduldiger und liebevoller mit den Fehlern anderer umgehen.“

 

Wenn Usi erzählt, kommen mir die Bilder in den Sinn, mit denen die theologische Tradition das beschrieben hat: wie eine in sich verkrümmte Larve sich entrollt, ihre Flügel ausbreitet und als bunter Schmetterling davon fliegt. Oder wie ein Gebeugter sich aufrichtet zu erhobenem Haupt und aufrechtem Gang. Oder wie der Kerker gesprengt wird und Gefangene durch die offene Türe in die Freiheit schreiten.

 

„Ich habe die Kraft der Dankbarkeit entdeckt. Was ich früher als selbstverständlich hinnahm, weiß ich jetzt viel mehr zu schätzen. Das macht mich glücklicher, weil ich mich beschenkt fühle. …wenn ich einen netten Menschen treffe. …wenn mir gelingt, was ich mir vorgenommen habe. …wenn ich gut geschlafen und was Leckeres zu essen habe. Alles nehme ich als Geschenk. Und das gibt mir Kraft, die ich früher nicht kannte.“

 

Usi fühlt sich begnadet. Wie ein begnadeter Künstler. Der weiß, trotz allen harten Trainings, seine Leistung ist die Frucht seiner Begabung, seine Gaben sind Gnade, Geschenk, unverdient.

„Gnade“ ist neben Glauben und Freiheit ein weiteres zentrales Stichwort in der theologischen „Rechtfertigungslehre“. Aber wohl gemerkt: Usi fühlt sich begnadet, nicht begnadigt. Oft hat die theologische Tradition die Gnade so klein gemacht, dass sie zu einem Gegenbegriff zum Recht geworden ist. Gnade als Erlass von Strafe für Schuldig Gewordene. Gnade vor Recht. Augustin und Luther waren auf ihre Schuldgefühle und die Schuldthematik fixiert und haben darum den Reichtum der Gaben Gottes allein auf die Vergebung von Schuld begrenzt. Sie waren gebannt von der Frage nach dem gnädigen Gott und haben gerade darum das Verständnis von Gnade reduziert. Manchmal können Schuld und Schuldgefühle das Leben verdunkeln und den Blick für das Geschenk des Lebens verstellen. Ja, aber das ganze Leben ist Gnade. Das Beste gibt’s umsonst: das Leben. Das hat Usi entdeckt. Und diese Entdeckung hat ihn frei und glücklich gemacht.

„Wie hat sie denn angefangen, deine Geschichte mit Gott?“, frage ich Usi.

 

„Ich habe gemerkt, wie sehr ich auf Worte angewiesen bin, die ich mir nicht selber sagen kann. Wenn dir ein Mensch, der dir wichtig ist, sagt: „Ich mag dich. Ich brauche dich. Ich liebe dich.“, dann haben diese Sätze einfach mehr Kraft als die Allerweltsätze wie „Gott hat alle Menschen lieb.“ Ich habe gemerkt „Gott mag Usi“. Und dann habe ich es einfach ausprobiert. Ich habe ihn sagen lassen: „Ich bin für dich da, Usi, ich bin auf deiner Seite. Ich liebe dich, Usi, ich sorge für dich.“ Diesen Zusagen habe ich vertraut. Und das hat funktioniert. Das hat mich frei gemacht. Schritt für Schritt konnte ich Gott vertrauen. Was ich früher für selbstverständlich hielt, habe ich immer mehr als unverdiente Geschenke entdeckt. Das hat mich dankbarer und zufriedener gemacht. Stück für Stück konnte ich meine Sorgen los lassen, konnte ich abgeben, was mich erstickte und mir die Luft nahm. Mehr und mehr konnte ich durchatmen.“

 

Wieder erinnern mich die Erfahrungen dieses Juden an die Grundeinsichten der christlichen theologischen Tradition. Der Vorrang der Bibel vor ihrer Auslegung durch die Kirche. Dieses Prinzip hat der christlichen Theologie eine kraftvolle neue Perspektive gegeben. Was im 16. Jahrhundert Martin Luther neu entdeckte, ist heute Allgemeingut in der Christenheit geworden. Und auch die Kirchen der Reformation, die Luther darin zunächst gefolgt sind, haben diese Lektion in der Gegenwart immer wieder neu zu lernen. Denn längst ist auch dieses Prinzip zu einem Teil der kirchlichen Tradition geworden. Die Bibel ist nicht das lebendige Wort Gottes. Es ist aber in den biblischen Texten zu vernehmen. Wenn Menschen wie Usi es einfach ausprobieren. Die alten Texte sich so aneignen, dass sie in diesen menschlichen Worten Gottes Anrede an sie persönlich vernehmen.

 

„Ich habe geübt, zu Gott zu beten. Und zu üben habe ich es auch weiter. Auch in der Zukunft. Ich habe mir den Siddur gekauft, unser jüdisches Gebetbuch. Ich habe die Psalmen entdeckt und mir die schönsten angeeignet, mit denen Menschen ihre Sorgen und Ängste, aber auch ihre Befreiung und ihr Vertrauen ausdrücken. Es vergeht kein Tag mehr, an dem ich nicht bete. Und wenn ich morgens dazu die Zeit nicht gefunden habe, merke ich sehr schnell, dass mir etwas fehlt. Ich habe versäumt, an Gott abzugeben, was mir zu schwer ist. Ich habe versäumt, mich zu bedanken, um mich vor der Illusion zu bewahren, mein Leben sei machbar und produzierbar und Scheitern und Misserfolge seien Katastrophen. Aber was ich morgens versäumt habe, kann ich mittags nachholen. Ich lasse mich nicht mehr unter Druck setzen. Früher war Gott für mich nur ein Wort, jetzt ist Gott mein lebendiges Gegenüber. Von ihm fühle ich mich gestärkt und korrigiert. Ich möchte nicht mehr leben ohne diese Hilfe zum Leben.

 

Ich habe aufgehört, auf meine Defizite zu gucken. Ich habe aufgehört, ständig zu bedauern, was ich nicht kann und nicht geschafft habe. Ich habe begonnen, mich an dem zu freuen, was ich gut kann und was mir gelingt. Das befähigt mich, mit meinen Defiziten und Niederlagen besser um zu gehen. So habe ich buchstäblich eine neue Weltanschauung bekommen. Ich habe gelernt: Ich bin – wie jeder Mensch – behindert und begabt, begabt und behindert. Jeder Mensch hat mehr oder weniger große Behinderungen und dementsprechend jeweils besondere Bedürfnisse. Und jeder Mensch ist begabt, mit verschiedenen bedeutenden und weniger bedeutenden Talenten und Gaben. Theoretisch wusste ich das alles. Aber jetzt bestimmt dieses Wissen meinen Alltag.“

 

Und wieder erinnert mich mein jüdischer Freund Usi an die Grunderkenntnisse der theologischen Rechtfertigungslehre, die Unterscheidung von Person und Werk. Unabhängig von dem, was Menschen leisten oder versäumen: wir sind Geschöpfe Gottes, Gottes Ebenbilder. Wir sind beauftragt, an Gottes Stelle nach Maßgabe unserer je besonderen Möglichkeiten das Leben zu gestalten. So sind wir Gott recht und können darum einander gerecht werden.

Usi ist hebräisch und heißt: „meine Kraft“. „Willst du dir nicht einen neuen Namen geben, nachdem du religiös geworden bist?“, fragte ich ihn einmal spaßeshalber. „Wie wär’s mit Usiel?“ Das heißt: „Meine Kraft ist Gott.“ Einen Augenblick überlegte er, um dann die Frage entschieden zu verneinen.

 

„Ich möchte Gott nicht zu einem Teil meines Namens machen. Mein Name ist wie eine offene Frage: Wer oder was ist meine Kraft? Ich möchte die Frage offen halten. Davon lebt mein neuer Glaube. Ich lasse mich jeden Tag neu überraschen – und natürlich auch enttäuschen. Usiel ist mir zu viel Programm. Davon habe ich die Nase voll. Usi ist offen für das Abenteuer, offen für das Unerwartete. Usi ist offen für Gott, für Gottes Kraft. Ich weiß nicht im Voraus, ob sie sich einstellt. Aber gerade das macht sie so kraftvoll, wenn sie kommt.“

 

Früher dachte ich, die Rechtfertigungslehre sei eine evangelische Lehre. Aber dann lernte ich, wie die Entdeckung Martin Luthers auch in anderen Kirchen zu finden ist. Vor sechzehn Jahren hat es sogar eine offizielle Vereinbarung gegeben zwischen der lutherischen und der römisch-katholischen Kirche, die ausdrücklich erklärt, dass die Rechtfertigungslehre die beiden Kirchen nicht trennt, wie man vierhundert Jahre lang gelehrt hat, sondern sie miteinander verbindet.

Die Begegnung mit dem Juden Usi hat mich als christlichen Theologen noch eine Stufe mehr herausgefordert und meinen Horizont geweitet... Was Martin Luther am Messias Jesus entdeckt hat, hat Usi ohne Jesus entdeckt. Es heißt, auch Luther habe, was er an der Lehre über den Messias, den Christus, im Neuen Testament entdeckt hat, zuvor in den jüdischen Psalmen erkannt. Man hat seine Erkenntnis später u.a. auf die Formel gebracht „Christus allein“.

Das klingt so wie der oft beschworene Absolutheitsanspruch des Christentums. Aber die Formel der christlichen Rechtfertigungslehre „Christus allein“ war keine antijüdische oder antimuslimische Kampfformel. Die Aufforderung „Christus allein“ war eine Anleitung zur Kritik an der Kirche. An einer Kirche, die sich selbst mit Christus und seinem Herrschaftsanspruch identifizierte, die ihren Wahrheitsanspruch mit der unverfügbaren Wahrheit Christi verwechselte. … Es war eine Anleitung, dem kommenden Messias, dem unverfügbaren Christus zu vertrauen.

Usi, der Jude, der seinen Namen offen halten will, predigt mir dieses Evangelium: Usi ist offen für Gott, für Gottes Kraft. Auch ich weiß nicht im Voraus, ob sie sich einstellt. Aber gerade das macht sie so kraftvoll, wenn sie kommt. Und das verbindet uns, Christ und Jude, miteinander.

02.04.2015
Pfarrer i.R. Rainer Stuhlmann