Muss Politik so sein?

Foto: schwarzer Lufballon mit der Aufschrift "Brexit", aus dem die Luft gelassen wurde  (bei der Grossdemo von "Pulse of Europe" am 27.01.2019 auf dem Gendarmenmarkt in Berlin, anlässlich der bevorstehenden Europawahlen im Mai)

epd-bild/Christian Ditsch

Foto: schwarzer Lufballon mit der Aufschrift "Brexit", aus dem die Luft gelassen wurde
(bei der Grossdemo von "Pulse of Europe" am 27.01.2019 auf dem Gendarmenmarkt in Berlin, anlässlich der bevorstehenden Europawahlen im Mai)

Muss Politik so sein?
Gedanken zur Woche mit Pfarrerin Cornelia Coenen-Marx
06.09.2019 - 06:35
27.06.2019
Cornelia Coenen-Marx
Über die Sendung

Boxkampf statt Samthandschuhen. Die Debatten im britischen Unterhaus über den Brexit sind spannend wie ein Krimi. Aber es geht um Menschen, nicht um Macht - meint Pfarrerin Cornelia Coenen-Marx.

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„Selten mit so viel Spannung eine Parlamentsdebatte verfolgt“, schrieb jemand auf Twitter. Dagegen sei der Bundestag doch langweilig. Auch ich habe in den letzten Tagen immer wieder die Live- Berichte aus dem britischen Unterhaus eingeschaltet. Ob ich mir allerdings solche Debatten bei uns wünsche – wohl eher nicht. Zuviel Misstrauen, zu viele Schimpfworte, ja, auch persönliche Beleidigungen. Die Samthandschuhe hat man abgelegt.

Klar, der Premierminister steht mit dem Rücken zur Wand. Im Unterhaus, wo Regierungspartei und Opposition einander gegenübersitzen, hat am Dienstag ein Abgeordneter demonstrativ die Seite gewechselt. Damit hatte Johnson keine Mehrheit mehr. Nach 27 Jahren bei den Tories sei ihm das nicht leichtgefallen, schrieb Philipp Lee an Johnson – aber es sei ihm unmöglich, in dieser Konstellation seinen Wählern und dem Land zu dienen.

Es geht um verlorenes Vertrauen. „Wenn Sie wirklich unser Vertrauen haben wollen, dann müssen Sie uns die Wahrheit sagen“, konnte man immer wieder hören. Wie ist der Stand der Nachverhandlungen in Brüssel? Was passiert, wenn der Backstop ausgesetzt wird? In welchem Maß wird die Wirtschaft leiden? Wieviel Arbeitsplätze werden verloren gehen? Und wie sieht es mit der Versorgung der Bevölkerung aus? Papiere wurden geleakt, Gerüchte gehen um, und plötzlich kann niemand mehr sagen, was Worte eigentlich gelten.

Ich höre den Argumenten zu und bin verwirrt: Müssen solche Verhandlungen nicht auch hinter verschlossenen Türen stattfinden? Muss man Druck ausüben, um den anderen zum Kompromiss zu zwingen? Ist es nicht richtig, nach drei Jahren fruchtloser Debatten und gescheiterter Abstimmungen endlich zu einer Entscheidung zu kommen? Koste es, was es wolle? Nicht wenige bewundern die heroischen Gesten des Regierungschefs. Aber ist Politik ein Hahnenkampf um die Macht? Denn um nichts anderes als Macht scheint es zu gehen, wenn Worte wie „Kapitulationsgesetz“ oder „Unterwerfung“ fallen. Muss Politik so sein? So respektlos? Ein Spiel, das sich nur um die eigenen Pfründe dreht? Ganz unverhohlen wurde den Abweichlern in der konservativen Partei mit Ausschluss und Mandatsverlust gedroht. Wer Angst um seine Karriere hat, der wird sich schon anpassen, dachte man wohl. So denken viele über Politiker und Politikerinnen.

Aber die Rechnung ging nicht auf. 21 Abgeordnete der Torys stimmten mit der Opposition. Und wurden kurz darauf per SMS aus der Partei ausgeschlossen. „Das ist das beste Großbritannien, das wir je hatten“, schrieb jemand auf Facebook. Und setzte ein Foto der 21 Männer und Frauen dazu – darunter frühere Minister wie der Schatzkanzler Philip Hammond und ein Enkel von Churchill.

Den Rebellen geht es tatsächlich um die Menschen in ihrem Wahlkreis. Sie wollen ihr Land und ihre Überzeugung nicht verraten. Sie haben mir gezeigt, warum die Debatte am Dienstag „Notfalldebatte“ hieß. Ein Abgeordneter erzählte ganz offen von der eigenen Krankheit, um deutlich zu machen, was auf dem Spiel steht, wenn Medikamente vom Kontinent nicht rechtzeitig ankommen. Es geht um die Existenz – um Medikamente, aber auch um Obst, Gemüse und Joghurt. Gesundheit und den Arbeitsplatz. Die Existenz der Schafzüchter. Und den Frieden in Nordirland. Es geht nicht um London und Brüssel, sondern um die Sorgen der Leute in den Midlands oder in Wales. Und um die Wahrheit, dass ein No-Deal-Brexit die Probleme nicht löst, sondern verschärft.

Mächtige in einer Demokratie müssen ernst nehmen, was ihre Worte und Entscheidungen bewirken: Sie müssen weitsichtig sein und nachdenklich. Und sorgsam auf die Kleinen schauen, die Betroffenen. Die Bibel nutzt dafür das Bild von den Hirten, die für ihre Schafe Verantwortung tragen: dass die Herde sicher ist, nicht verletzt und nicht zerstreut wird. Es gibt diese Augenblicke, in denen es wirklich darauf ankommt. Und es gibt diese Menschen, die dafür aufstehen und die Wahrheit sagen. Auch in der Politik.

 

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27.06.2019
Cornelia Coenen-Marx